Hinz&Kunzt 278 April 2016
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Stadtgespräch<br />
Seit zwei Jahren leitet Ingrid Kieninger (links) die Krankenstube auf<br />
St. Pauli. Die in Hamburg einzigartige Einrichtung EXISTIERT bereits<br />
seit 1999. Ein Großteil der Ausstattung stammt aus dem ehemaligen Hafenkrankenhaus.<br />
Gegenwehr fehlte ihm die Kraft. Nach<br />
gutem Zureden der Schwestern in der<br />
Krankenstube traute er sich sogar in die<br />
Klinik. „Die haben hier so lieb auf mich<br />
eingeredet, da habe ich mich breitschlagen<br />
lassen.“ Dass es um sein Leben ging,<br />
war ihm damals noch nicht klar.<br />
Heute weiß Thomas, was mit ihm<br />
los war: schwere Diabetes, ein Lungenflügel<br />
war zusammengefallen. „Ein<br />
paar Stunden später wäre ich hinüber<br />
gewesen“, sagt er. „Das hier war meine<br />
Rettung.“ Als er aus der Klinik zurückkam,<br />
waren die Zimmer in der Krankenstube<br />
schon voll belegt, aber die<br />
Schwestern schoben noch ein Bett für<br />
ihn dazu. Sie halfen ihm beim Insulinspritzen,<br />
vier Mal am Tag, und<br />
pflegten seine geschundenen Beine<br />
und Füße. „Das kenne ich sonst nicht,<br />
dass einem bedingungslos geholfen<br />
wird“, sagt Thomas.<br />
18 Betten hat die Krankenstation der<br />
Caritas auf St. Pauli, vier davon sind reserviert<br />
für Menschen mit Tuberkulose,<br />
sofern die Lungenkrankheit nicht mehr<br />
ansteckend ist.<br />
Die meisten Obdachlosen kommen<br />
mit Entzündungen an Füßen und Beinen,<br />
Hautgeschwüre, Bronchitis, Lungenentzündung,<br />
Krätze, schwere Erschöpfung,<br />
kaputte Zähne, Diabetes.<br />
Doch ohne Arzt, Medikamente und ein<br />
warmes Bett zum Auskurieren sind<br />
auch solche Gebrechen schnell sehr<br />
ernst. „Eine entzündete Stelle kann<br />
schon zu Amputationen führen“, sagt<br />
Ingrid Kieninger. Auch erfrorene Finger,<br />
Füße oder Beine seien oft nicht<br />
mehr zu retten.<br />
Im vergangenen Winter, bei vergleichsweise<br />
milden Temperaturen,<br />
mussten bei zwei Männern erfrorene<br />
Füße abgenommen werden.<br />
23<br />
Sieben Tabletten, zwei Kapseln: „Das<br />
ist das Frühstück“, sagt Pavel. Über den<br />
Tag verteilt schluckt der 36-Jährige aus<br />
Polen zwölf Medikamente. Für ihn ist<br />
klar: „Ohne Krankenstube wäre ich<br />
tot.“ Pavel ist schwer krank. Drei Jahre<br />
auf der Straße und viel zu viel Alkohol<br />
haben seine Leber zerstört. Immer wieder<br />
war er für kurze Zeit Patient in der<br />
Krankenstube, dann landete er wieder<br />
bei Kollegen oder auf der Straße. Diesmal<br />
bleibt er länger. „Die Krankenstube<br />
ist eine große Chance“, sagt er.<br />
„Aber auch die letzte Chance.“<br />
Seit fast einem Jahr lebt Pavel in<br />
der Pflegeeinrichtung auf St. Pauli.<br />
Alkohol hat er seitdem nicht mehr angerührt.<br />
Dafür lernt er Deutsch und<br />
macht Termine beim Arbeitsamt und<br />
beim Jobcenter. „Ich brauche eine richtige<br />
Arbeit“, sagt er. „Ich muss selber<br />
existieren.“