Hinz&Kunzt 278 April 2016
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Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>278</strong>/APRIL <strong>2016</strong><br />
„Es gibt viele Menschen, die kapiert haben:<br />
So wie da draußen will ich nicht<br />
mehr leben“, sagt Ingrid Kieninger.<br />
Trotzdem müssen die Patienten, sobald<br />
sie können, wieder weiterziehen. Im<br />
Schnitt sind sie nach 42 Tagen wieder<br />
draußen – schlimmstenfalls auf der<br />
Straße. Um das zu verhindern, helfen<br />
die Sozialarbeiter in der Krankenstube<br />
auch beim Start in ein selbstständiges<br />
Leben. Sie beschaffen verloren gegangene<br />
Dokumente, prüfen Ansprüche<br />
auf Rente oder Arbeitslosengeld, machen<br />
Termine beim Jobcenter, suchen<br />
ein neues Zuhause, einen neuen Arbeitsplatz<br />
für die Patienten. Niemand<br />
soll hilflos vor die Tür gesetzt werden.<br />
„Wir müssen auch im Sinne der anderen<br />
kranken Obdachlosen dafür sorgen,<br />
dass wir die Leute weitervermitteln“,<br />
sagt Caritas-Sprecher Timo<br />
Spiewak. Nur wenn ein Platz frei wird,<br />
kann ein neuer Patient nachrücken.<br />
Doch das Vermitteln wird immer<br />
schwieriger, sagt der Sprecher. 150<br />
Menschen suchten im vergangenen<br />
150 Menschen<br />
suchten im<br />
vergangenen<br />
Jahr Schutz.<br />
Jahr Schutz in der Krankenstube, mehr<br />
als 20 waren mehrmals in Behandlung.<br />
Danach landen einige doch wieder<br />
draußen – und müssen, wenn sie krank<br />
werden, wieder auf ein Krankenbett an<br />
der Seewartenstraße hoffen.<br />
Dabei sind es nicht nur alte Bekannte,<br />
die die Hilfe der Krankenstube<br />
brauchen. „Es kann jeden treffen“, sagt<br />
Ingrid Kieninger. Auch Volker (69) hatte<br />
einen anderen Plan. Der Plan war<br />
gut: Jahrelang arbeitete er im Controlling<br />
einer Reederei für Passagierschiffe,<br />
verdiente ordentlich, lernte Schwedisch,<br />
Norwegisch und Dänisch. Als er<br />
aufs Rentenalter zuging, vereinbarte er<br />
24<br />
mit der Firma eine zweijährige Verlängerung,<br />
um bleiben zu können. Doch<br />
als er 65 war, stellte sich der Betriebsrat<br />
quer. „Da war ich von einem Tag auf<br />
den anderen Rentner.“ Er wollte das<br />
nicht wahrhaben. Pfiff auf den Rentenantrag,<br />
lebte weiter wie bisher – „nur<br />
eben ohne Einkünfte“. Er verdrängte,<br />
dass seine Ersparnisse dahinschwanden,<br />
er die Wohnung nicht mehr halten<br />
konnte, nicht mehr regelmäßig aß.<br />
Volker landete auf der Straße, jeden<br />
Gedanken an Zukunft blendete er<br />
aus. Auch dass er sich eines Tages im<br />
Krankenhaus von St. Georg wiederfand,<br />
scheint ihm heute schleierhaft.<br />
„Da liegt man in einem Bett, was ein<br />
anderer dringender braucht“, sagt er.<br />
In der Krankenstube hatte er Zeit,<br />
seine Wunden auszukurieren – auch<br />
die seelischen, die der plötzliche Schnitt<br />
in seinem Leben hinterlassen hatte. Inzwischen<br />
ist der Rentenantrag gestellt,<br />
Volkers Lebensabend ist gesichert. „Es<br />
ist gut, dass man hier einen Anlaufpunkt<br />
hat, damit man wieder auf den