Hinz&Kunzt 278 April 2016
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Lebenslinien<br />
„Wir wollen nicht,<br />
dass sich unsere<br />
Gesellschaft komplett<br />
verändert.“ STADTRAT MILED AKOURY<br />
frage ich mich schon: Wo sollen die Zelte stehen? Geht das?“<br />
Akoury, ein Bauingenieur, der Jahre in Dubai und Bukarest<br />
gearbeitet hat, versucht, die Dinge geordnet zu halten. „1975<br />
hatten wir wegen 400.000 Palästinensern Krieg. Daher sind<br />
wir vorsichtig mit den derzeit mindestens 1,5 Millionen syrischen<br />
Flüchtlingen im Land. Wir wollen nicht, dass sich unsere<br />
Gesellschaft komplett verändert.“ Doch dann sagt er<br />
noch etwas Wesentliches: „Aber was soll man tun, wenn die<br />
Leute in Syrien nicht mehr leben können? Es ist doch selbstverständlich,<br />
dass wir helfen.“<br />
Für Ahmad, das Geburtstagskind, und die vielen anderen<br />
Kinder ist die größte Hilfe die Schule. Die öffentlichen<br />
Schulen haben sich spät auf die Flüchtlingskinder eingestellt,<br />
die dem Lehrplan, der im Libanon französisch geprägt ist,<br />
nur schwer folgen können. 450 Kinder besuchen die Schule<br />
der Schwestern vom Guten Hirten. „Vormittags unterrichten<br />
wir die Kinder der Flüchtlingsfamilien. Nachmittags kommen<br />
libanesische Kinder, deren Eltern sie nicht schulisch unterstützen<br />
können“, sagt Ordensschwester Amira Tabet.<br />
Die Ordensfrau aus dem nahe gelegenen Baalbek hat in<br />
Albanien, im Senegal, in Frankreich gearbeitet. Und vier<br />
Jahre lang in Syrien. „Daher verstehe ich die Mentalität der<br />
Syrer besser als manch anderer, denke ich. Dort war manches<br />
möglich. Aber die Politik war tabu“, sagt sie. Sie weiß<br />
auch, wie wichtig es ist, dass auch libanesische Kinder Zugang<br />
zum gefragten Unterricht an ihrer Schule erhalten.<br />
„Unsere Gesellschaft steht vor einer Zerreißprobe: Wir stecken<br />
tief in der Wirtschaftskrise, wir haben keine funktionierende<br />
Regierung und wir haben Millionen Flüchtlinge im<br />
Land. Da darf man keine Ungleichheiten schaffen, sondern<br />
muss auch die einbeziehen, die selbst arm sind und trotzdem<br />
andere aufnehmen.“<br />
Anfangs seien die syrischen Kinder nur wegen des Essens<br />
aus den Zelten gekommen, sagt die 41-Jährige Projektkoordinatorin<br />
Siham Rahmeh. „Das hat sich vollkommen geändert.<br />
Sie haben gelernt, die Schule zu schätzen.“ Sie besucht<br />
immer wieder den Unterricht, um zu überprüfen, ob jedes<br />
Kind richtig gefördert wird. „Anfangs haben wir Kinder der<br />
gleichen Altersgruppe in eine Klasse eingeteilt. Das ist hier<br />
nicht möglich, die Unterschiede sind zu groß.“<br />
Roua Nayef gehört zu den Kindern, die sich in der Schule<br />
leicht tun. Sie sei auch schon zu Hause im Dorf nahe des<br />
syrischen Yabroud, 80 Kilometer nordöstlich von Damaskus<br />
und 20 Kilometer entfernt von der libanesischen Grenze,<br />
gerne zur Schule gegangen, sagt sie. Und dass sie dankbar<br />
sei, dass sie hier wieder lernen könne. Doch dann treten<br />
ihr die Tränen in die Augen, die Zwölfjährige beginnt zu<br />
schluchzen. Es fehlt so viel: das alte Zuhause, die Freunde<br />
von früher, das eigene Land.<br />
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