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Das Stadtgespräch August 2016

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38 TIPPS<br />

<strong>Das</strong> <strong>Stadtgespräch</strong><br />

TOM MCCARTHYCARTHY<br />

»Satin Island«<br />

Bekannte von mir haben Ethnologie<br />

oder Anthropologie<br />

studiert. Wem immer sie das<br />

erzählt haben, der hat sofort<br />

geantwortet: »<strong>Das</strong> ist ja hoch<br />

interessant!« <strong>Das</strong> stimmte auch.<br />

Und die Feten der Völkerkundler<br />

waren die besten überhaupt,<br />

weil man so viele Paradiesvögel<br />

aus aller Herren Länder und so<br />

viele Leute, die schon in die entlegensten<br />

Ecken der Welt gereist<br />

sind, sonst nirgends auf einem<br />

Haufen hatte. Auch wenn man<br />

Mbuli oder andere exotische<br />

Sprachen hören wollte, war das<br />

Ethnologische Institut der ideale<br />

Ort. Allerdings mussten die<br />

armen Studenten das Interesse<br />

der Umwelt mit der Antwort auf<br />

die gefürchtetste Frage überhaupt<br />

bezahlen: »Was macht<br />

man später damit?« <strong>Das</strong> machte<br />

den Jungs und Mädels dann<br />

ausgesprochen schlechte Laune,<br />

vor allem weil sie sich selbst<br />

diese Frage in dunklen Stunden<br />

stellten und nicht beantworten<br />

konnten.<br />

Da hat es U. in Tom McCarthys<br />

Roman »Satin Island« (DVA, 223<br />

Seiten, 19,99 Euro) besser. Er<br />

nennt sich selbst »Firmenanthropologe«<br />

und erhält als solcher<br />

den Auftrag, den Großen Bericht<br />

zu schreiben, ein universales<br />

ethnografisches Dokument,<br />

das nicht weniger tut, als unser<br />

gesamtes Zeitalter zusammenzufassen.<br />

Doch schnell fühlt er<br />

sich überwältigt von der schieren<br />

Datenmenge und der augenscheinlichen<br />

Unmöglichkeit, das<br />

Vorgefundene in eine irgendwie<br />

geartete, sinnstiftende Erzählung<br />

zu übersetzen. Als er sich<br />

zu fragen beginnt, ob sein<br />

Vorhaben überhaupt gelingen<br />

kann, verändert ein Traum von<br />

einer apokalyptischen Stadtlandschaft,<br />

in deren Mitte eine<br />

gigantische Müllverbrennungsanlage<br />

thront, seine Wahrnehmung.<br />

Auf eine besondere Art fängt<br />

Tom McCarthy ein, wie wir unsere<br />

Welt erleben, wie wir versuchen,<br />

ihr einen Sinn zuzusprechen<br />

und die Erzählung, die<br />

wir für unser Leben halten, zu<br />

erkennen. Ein beunruhigender<br />

Roman, der verspricht, das erste<br />

und letzte Wort über die Zeit<br />

zu formulieren, in der wir uns<br />

bewegen. Mit diesem Anliegen<br />

kommt er natürlich zu der nicht<br />

ganz neuen Erkenntnis, dass es<br />

unmöglich ist, im heutigen Zeitalter<br />

einen Roman zu schreiben.<br />

So ist das neue Buch von Tom<br />

McCarthy eher Collage, die keine<br />

wirkliche Handlung hat, sondern<br />

vielmehr Ideen aneinanderreiht.<br />

<strong>Das</strong> verlangt vom Leser etwas<br />

Geduld, weil auch diese Ideen<br />

nicht notwendiger Weise alle<br />

in sich schlüssig sind. Doch die<br />

Geduld des etwas Langmütigen<br />

wird gegen Ende belohnt, denn<br />

dann erzählt der Autor doch<br />

noch und das Ganze ergibt mehr<br />

Sinn.<br />

Tom McCarthy, Jahrgang 1969,<br />

lebt und arbeitet als Künstler<br />

und Schriftsteller in London. Er<br />

veröffentlicht Erzählungen, Essays<br />

und Artikel über Literatur,<br />

Philosophie und Kunst. Die von<br />

ihm gegründete International<br />

Necronautical Society (INS), ein<br />

semifiktives Avantgarde-Netzwerk,<br />

stellt in Galerien und Museen<br />

auf der ganzen Welt aus.<br />

Seine Romane sind in zwanzig<br />

Sprachen übersetzt. Der Erst-

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