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38 TIPPS<br />
<strong>Das</strong> <strong>Stadtgespräch</strong><br />
TOM MCCARTHYCARTHY<br />
»Satin Island«<br />
Bekannte von mir haben Ethnologie<br />
oder Anthropologie<br />
studiert. Wem immer sie das<br />
erzählt haben, der hat sofort<br />
geantwortet: »<strong>Das</strong> ist ja hoch<br />
interessant!« <strong>Das</strong> stimmte auch.<br />
Und die Feten der Völkerkundler<br />
waren die besten überhaupt,<br />
weil man so viele Paradiesvögel<br />
aus aller Herren Länder und so<br />
viele Leute, die schon in die entlegensten<br />
Ecken der Welt gereist<br />
sind, sonst nirgends auf einem<br />
Haufen hatte. Auch wenn man<br />
Mbuli oder andere exotische<br />
Sprachen hören wollte, war das<br />
Ethnologische Institut der ideale<br />
Ort. Allerdings mussten die<br />
armen Studenten das Interesse<br />
der Umwelt mit der Antwort auf<br />
die gefürchtetste Frage überhaupt<br />
bezahlen: »Was macht<br />
man später damit?« <strong>Das</strong> machte<br />
den Jungs und Mädels dann<br />
ausgesprochen schlechte Laune,<br />
vor allem weil sie sich selbst<br />
diese Frage in dunklen Stunden<br />
stellten und nicht beantworten<br />
konnten.<br />
Da hat es U. in Tom McCarthys<br />
Roman »Satin Island« (DVA, 223<br />
Seiten, 19,99 Euro) besser. Er<br />
nennt sich selbst »Firmenanthropologe«<br />
und erhält als solcher<br />
den Auftrag, den Großen Bericht<br />
zu schreiben, ein universales<br />
ethnografisches Dokument,<br />
das nicht weniger tut, als unser<br />
gesamtes Zeitalter zusammenzufassen.<br />
Doch schnell fühlt er<br />
sich überwältigt von der schieren<br />
Datenmenge und der augenscheinlichen<br />
Unmöglichkeit, das<br />
Vorgefundene in eine irgendwie<br />
geartete, sinnstiftende Erzählung<br />
zu übersetzen. Als er sich<br />
zu fragen beginnt, ob sein<br />
Vorhaben überhaupt gelingen<br />
kann, verändert ein Traum von<br />
einer apokalyptischen Stadtlandschaft,<br />
in deren Mitte eine<br />
gigantische Müllverbrennungsanlage<br />
thront, seine Wahrnehmung.<br />
Auf eine besondere Art fängt<br />
Tom McCarthy ein, wie wir unsere<br />
Welt erleben, wie wir versuchen,<br />
ihr einen Sinn zuzusprechen<br />
und die Erzählung, die<br />
wir für unser Leben halten, zu<br />
erkennen. Ein beunruhigender<br />
Roman, der verspricht, das erste<br />
und letzte Wort über die Zeit<br />
zu formulieren, in der wir uns<br />
bewegen. Mit diesem Anliegen<br />
kommt er natürlich zu der nicht<br />
ganz neuen Erkenntnis, dass es<br />
unmöglich ist, im heutigen Zeitalter<br />
einen Roman zu schreiben.<br />
So ist das neue Buch von Tom<br />
McCarthy eher Collage, die keine<br />
wirkliche Handlung hat, sondern<br />
vielmehr Ideen aneinanderreiht.<br />
<strong>Das</strong> verlangt vom Leser etwas<br />
Geduld, weil auch diese Ideen<br />
nicht notwendiger Weise alle<br />
in sich schlüssig sind. Doch die<br />
Geduld des etwas Langmütigen<br />
wird gegen Ende belohnt, denn<br />
dann erzählt der Autor doch<br />
noch und das Ganze ergibt mehr<br />
Sinn.<br />
Tom McCarthy, Jahrgang 1969,<br />
lebt und arbeitet als Künstler<br />
und Schriftsteller in London. Er<br />
veröffentlicht Erzählungen, Essays<br />
und Artikel über Literatur,<br />
Philosophie und Kunst. Die von<br />
ihm gegründete International<br />
Necronautical Society (INS), ein<br />
semifiktives Avantgarde-Netzwerk,<br />
stellt in Galerien und Museen<br />
auf der ganzen Welt aus.<br />
Seine Romane sind in zwanzig<br />
Sprachen übersetzt. Der Erst-