Arbeitsrechtliche Entscheidungen Ausgabe 2010-04
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248. Kündigung, zwingendes Erfordernis vorheriger<br />
Anhörung des Arbeitnehmers, Verletzung der Menschenwürde<br />
(Mindermeinung)<br />
Der Ausspruch einer Kündigung durch den Arbeitgeber ohne<br />
die vorherige rechtliche Möglichkeit des Arbeitnehmers zur<br />
Gegenäußerung verletzt die Menschenwürde des Arbeitnehmers<br />
sowie dessen Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung.<br />
Ohne die vorherige Anhörung wird der Arbeitnehmer auf<br />
diese Weise zum Objekt der Maßnahme eines Dritten, die<br />
für ihn erhebliche materielle und ideelle Nachteile hat und<br />
ihn in seiner freien Persönlichkeitsentfaltung hindert. Wenn<br />
durch eine einseitige, „einsame“ Entscheidung des Arbeitgebers<br />
demnach dem Arbeitnehmer materielle und ideelle Konsequenzen<br />
für die weitere Lebensgestaltung auferlegt werden<br />
könnten, ohne dass diesem in Form der Anhörung die Möglichkeit<br />
gegeben wird, diese Kündigungsentscheidung vorher<br />
durch eine Stellungnahme zu beeinflussen, abzumildern<br />
oder abzuwenden, würde der Arbeitnehmer im Ergebnis zum<br />
bloßen Träger der dem Arbeitgeber nicht mehr interessierenden<br />
Arbeitskraft reduziert. Dies würde die menschliche Würde<br />
des Arbeitnehmers sowie sein Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung<br />
missachten.<br />
■ Arbeitsgericht Gelsenkirchen<br />
vom 17.3.<strong>2010</strong>, 2 Ca 319/10<br />
Anmerkung: Der Vorsitzende der 2. Kammer setzt ankündigungsgemäß<br />
nach Rückkehr in die Richterfunktion seinen<br />
einsamen Kreuzzug fort. (me)<br />
249. Außerordentliche Kündigung, Interessenabwägung,<br />
Vertrauenskapital durch langjährige Beschäftigung überwiegt<br />
Betrugsdelikt bei Schaden von € 150<br />
1. Vermögensstraftaten gegenüber dem Arbeitgeber sind als<br />
„wichtiger Grund“ im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB „an sich“<br />
zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung geeignet.<br />
Die Wirksamkeit der Kündigung ist dann im Rahmen einer auf<br />
den Einzelfall bezogenen umfassenden Interessenabwägung<br />
zu prüfen (ständige Rechtsprechung des BAG).<br />
2. Den Hinweisen, die der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts<br />
ausweislich der Pressemitteilung in seiner nunmehrigen<br />
Entscheidung vom 10.6.<strong>2010</strong> (2 AZR 541/09 – „Pfandbon“) für<br />
die diesbezüglich anzustellende Interessenabwägung gegeben<br />
hat, ist zu entnehmen, dass einer sehr langjährigen beanstandungsfreien<br />
Betriebszugehörigkeit und dem damit angesammelten<br />
Vertrauenskapital ein sehr hoher Wert im Rahmen<br />
der Interessenabwägung zukommt, so dass auch eine erhebliche<br />
Pflichtverletzung – jedenfalls im „Erstfalle“ – nicht ohne<br />
weiteres zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen<br />
muss.<br />
3. Dieser Gesichtspunkt, der im dortigen Fall bei einer erheblichen<br />
Pflichtwidrigkeit einer Kassiererin sogar im Kernbereich<br />
ihrer Tätigkeit an der Kasse zu einer Unwirksamkeit<br />
der Kündigung führte, war im Streitfalle in noch höherem<br />
<strong>04</strong>/10<br />
Rechtsprechung<br />
Bestandsschutz<br />
Maße zugunsten der seit 40 Jahren beschäftigten Klägerin zu<br />
berücksichtigen, die in einer besonderen Ausnahmesituation<br />
außerhalb des Kernbereichs ihrer Tätigkeit eine Betrugshandlung<br />
gegenüber dem Arbeitgeber mit einem Schadensbetrag<br />
von rd. 150 € vorgenommen hatte.<br />
■ Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg<br />
vom 16.9.<strong>2010</strong>, 2 Sa 509/10<br />
250. Betriebsbedingte Kündigung, Unternehmerentscheidung,<br />
Wegfall eines leidensgerechten Arbeitsplatzes<br />
Die unternehmerische Entscheidung einen leidensgerechten<br />
Arbeitsplatz in Wegfall zu bringen, erweist sich dann als<br />
unsachlich bzw. willkürlich, wenn der Arbeitgeber aus § 81<br />
Abs. 4 SGB IX gleich wieder verpflichtet wäre, durch Umorganisation<br />
der Tätigkeiten einen solchen zu schaffen.<br />
■ Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg<br />
vom 30.3.<strong>2010</strong>, 7 Sa 58/10<br />
251. Betriebsbedingte Kündigung, Erfordernis eines betrieblichen<br />
Eingliederungsmanagements<br />
Die Pflicht nach § 84 Abs. 2 SGB IX existiert nicht nur im Vorfeld<br />
von personenbedingten Kündigungen, sondern – nach<br />
Erreichen des dortigen Schwellenwertes – immer dann, wenn<br />
gesundheitliche Beeinträchtigungen eines Arbeitnehmers die<br />
Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Betrieb beeinflussen<br />
(können). Auch vor einer betriebsbedingten Kündigung ist<br />
das betriebliche Eingliederungsmanagement durchzuführen,<br />
um etwaige Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten beurteilen<br />
zu können.<br />
Da das betriebliche Eingliederungsmanagement auch dazu<br />
dient, zur Re-Integration arbeitsunfähiger Arbeitnehmer etwaige<br />
Möglichkeiten der Umorganisation zu prüfen, um einer<br />
Kündigung entgegenzuwirken – einschließlich eines Freimachens<br />
von Arbeitsplätzen durch Umsetzungen –, reicht es<br />
nicht aus, wenn lediglich eine Anpassung vergleichbarer Arbeitsplätze<br />
geprüft wird. Der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer<br />
vielmehr auch mitteilen, welche – auch besetzten –<br />
Arbeitsplätze aus seiner Sicht für eine Versetzungsmaßnahme<br />
in Betracht kommen. Sodann ist im Rahmen des betrieblichen<br />
Eingliederungsmanagements zu klären, ob bei einer etwaigen<br />
Versetzung ebenfalls mit erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten<br />
zu rechnen ist oder eine positive Zukunftsprognose abgegeben<br />
werden kann, und ob eine solche Maßnahme möglich<br />
und dem Arbeitgeber zumutbar ist.<br />
■ Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg<br />
vom 4.1.<strong>2010</strong>, 10 Sa 2071/09<br />
252. Personenbedingte Kündigung, negative Zuverlässigkeitsprüfung<br />
in sicherheitsrelevanter Beschäftigung, Beeinträchtigung<br />
betrieblicher Interessen<br />
1. Der Wegfall der behördlichen positiven Zuverlässigkeitsüberprüfung<br />
(ZUP) gemäß § 7 Abs. 1 LuftSiG (früher § 29d<br />
LuftverkehrsG a.F.) verhindert die Ausübung der vertraglich<br />
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