Arbeitsrechtliche Entscheidungen Ausgabe 2010-04
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zum Schutz der AN angesehen 15 und es im traditionellen<br />
Prüfungsschema des ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes<br />
der „zwingenden Gründe des Allgemeinwohls“ aufgehen<br />
lassen. Ist der Schutz der AN anders als durch den Tarifvertrag<br />
ausreichend gesichert, ist der Tarifvertrag nach Auffassung<br />
des EuGH zum Schutz der AN nicht nötig und damit auch ein<br />
darauf gerichteter Arbeitskampf unzulässig. 16<br />
Und hier schließt sich der Kreis meines Statements: Der sechste<br />
Senat des BAG hat zur Klärung des Gewährleistungsinhalts<br />
des Rechts auf Kollektivverhandlungen im Zusammenhang<br />
mit altersdiskriminierenden Vergütungsregelungen den EuGH<br />
angerufen. 17 Es geht dabei um die Frage, ob die Grundvergütung<br />
im BAT, die gestaffelt nach Lebensaltersstufen anstieg,<br />
eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters<br />
darstellte und ob eine solche Altersdiskriminierung auch im<br />
TVöD noch mittelbar diskriminierend fortwirkt. Dabei geht es<br />
nicht darum, ob Tarifvertragsnormen diskriminieren dürfen –<br />
eine solche „Lizenz zum Diskriminieren“ kommt den Tarifvertragsparteien<br />
auch nach nationalem Rechtsverständnis nicht<br />
zu. Tarifverträge sind immer an höherrangigem Recht und<br />
insbesondere am allgemeinen Gleichheitssatz gemessen worden.<br />
Es geht vielmehr darum, ob den Tarifvertragsparteien<br />
ein Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum in Bezug auf die<br />
ihren Regelungen zugrunde liegenden Tatsachen und Interessen<br />
sowie die Folgen ihrer Normsetzung zukommt, ob sie<br />
vom typischen Fall ausgehen und Besonderheiten des Einzelfalls<br />
vernachlässigen dürfen. Eine solche Einschätzungsprärogative<br />
hat der EuGH bisher den Tarifvertragsparteien nicht<br />
zugebilligt. 18 Kollektivverhandlungsautonomie – oder um den<br />
uns geläufigeren Ausdruck zu verwenden: Tarifautonomie –<br />
setzt aber zwingend Freiräume und Beurteilungsspielräume<br />
voraus, 19 wenn sie eine Autonomie nach unserem Verständnis<br />
sein soll. Anders als beim TV Entgeltumwandlung bewegen<br />
sich die Tarifvertragsparteien beim BAT und TVöD im Kern<br />
ihrer durch die Tarifautonomie geschützten Freiheit. Der EuGH<br />
hat in der Entscheidung zum TV Entgeltumwandlung andeutungsweise<br />
erkennen lassen, dass es für eine Gewichtung der<br />
kollidierenden Interessen darauf ankommen könnte, ob das<br />
Recht auf Kollektivverhandlungen in seinem Kern oder nur am<br />
Rande berührt ist. 20<br />
Wie der EuGH diese Fragen beantworten wird, steht in den<br />
Sternen. Vielleicht weicht er der Frage „Sag’, wie hält’st Du’s<br />
mit der Tarifautonomie?“ genauso aus, wie Faust der entsprechenden<br />
Frage Gretchens nach der Religion – übrigens<br />
<strong>04</strong>/10<br />
Aufsätze<br />
eine Frage, die heute diskriminierend wäre! Egal, wie die Antwort<br />
des EuGH lautet: Ausgehend von der Verfahrensweise<br />
des EuGH, keine Grundsatzurteile zu erlassen, sondern nur<br />
Antworten auf konkret gestellte Vorlagefragen zu geben, sich<br />
also stets von den Charakteristiken des ihm vorgelegten Falles<br />
leiten zu lassen, 21 scheint es mir bei der Auslegung des Rechts<br />
auf Kollektivverhandlungen durch den EuGH und seiner Berücksichtigung<br />
bei Kollisionen mit anderen Grundrechten und<br />
Grundfreiheiten unerlässlich zu sein, als Richter den als Verfahren<br />
des richterlichen Dialogs 22 vorgesehenen Weg nach Luxemburg,<br />
also den Weg des Vorabentscheidungsverfahrens,<br />
einzuschlagen. Sie, als Anwälte, können daran mitwirken, indem<br />
Sie uns mit guten Argumenten helfen.<br />
Nur wenn gerade die letztinstanzlichen Gerichte von diesem<br />
Verfahren reger als bisher Gebrauch machen, werden wir die<br />
Möglichkeit haben, unsere Sicht der Dinge, vor allem die Bedeutung<br />
der Tarifautonomie für die Lohnfindung im deutschen<br />
Arbeitsmarkt, dem EuGH nahezubringen und damit –<br />
wenn auch nicht immer, so doch vielleicht immer öfter – Gehör<br />
zu finden. Wir sollten also auch und gerade als Richter letzter<br />
Instanz nicht nur von der Vorlage„pflicht“, sondern auch<br />
von dem Vorlage„recht“ sprechen – und davon Gebrauch machen.<br />
Dabei sollten wir der Anregung des früheren Mitglieds<br />
des Gerichtshofs der Europäischen Union, Sir Edward, aufgreifen,<br />
der gewarnt hat. „Don’t ask silly questions!“ Wenn es uns<br />
gelingt, „intelligent questions“ zu stellen, kommen wir aus der<br />
Rolle der Getriebenen, stets nur auf Judikate aus Luxemburg<br />
Reagierenden heraus und können zu aktiven Teilnehmern an<br />
der Weiterentwicklung werden, vielleicht auch zur wechselseitigen<br />
Befruchtung von nationalem Recht und Unionsrecht!<br />
Dann wird es uns hoffentlich gelingen, die Tarifautonomie als<br />
wesentlichen Bestandteil unseres nationalen Verständnisses<br />
des Arbeitsrechts zu erhalten.<br />
15 Kocher, AuR 2008, 13, 15.<br />
16 EuGH 11.12.2008 – C-438/05 – Rn 81 f. [Viking].<br />
17 BAG 20.05.<strong>2010</strong> – 6 AZR 148/09 (A) – und – 6 AZR 319/09<br />
(A) – , jetzt C-297/10 bzw. C-298/10.<br />
18 Kocher, Stoppt den EuGH, 161, 171.<br />
19 Kocher, a.a.O., 174.<br />
20 EuGH 15.07.<strong>2010</strong> – C-271/08 – Rn 49.<br />
21 v. Danwitz, EuZA <strong>2010</strong>, Band 3, 6, 14; Skouris, RdA-<br />
Beilage 2009, 25, 30.<br />
22 v. Danwitz, EuZA <strong>2010</strong>, Band 3, 6, 18.<br />
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