Arbeitsrechtliche Entscheidungen Ausgabe 2010-04
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Einfluss der Rechtsprechung des EuGH auf das nationalstaatliche<br />
Verständnis der Tarifautonomie<br />
Richterin am BAG Karin Spelge, Erfurt*<br />
Seit Jahren nimmt der Einfluss des Unionsrechts im Allgemeinen<br />
und seiner Auslegung durch den EuGH im Besonderen<br />
auf immer neue, bisher scheinbar noch unberührte Biotope<br />
des nationalen Rechts zu. Dieser Einfluss wird jedenfalls von<br />
weiten Teilen der deutschen Rechtsöffentlichkeit mit spürbarem<br />
Unbehagen zur Kenntnis genommen, das in Überschriften<br />
Niederschlag findet wie „Quo vadis, EuGH?“ 1 , „Der<br />
EuGH im Arbeitsrecht – Die schwarze Serie geht weiter“ 2 oder<br />
jüngst „Stoppt den EuGH“ – letzteres allerdings mit Fragezeichen.<br />
3 War jahrelang die Rechtsprechung des EuGH zum Betriebsübergang<br />
unangefochtener Spitzenreiter in der arbeitsrechtlichen<br />
Auseinandersetzung mit dem Unionsrecht, so hat<br />
seit einiger Zeit ein Wechsel an der Tabellenspitze stattgefunden:<br />
Nun ist das brennendste Thema, welche Auswirkungen<br />
die Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG auf das nationale<br />
Arbeitsrecht entfaltet. Ich bin jedoch als Mitglied eines Senats<br />
dieses Hauses, der u.a. für die Auslegung von Tarifverträgen<br />
im öffentlichen Dienst zuständig ist, täglich mit den<br />
Ergebnissen ausgeprägt gelebter Tarifautonomie konfrontiert.<br />
Darum will ich mein und damit auch Ihr Augenmerk auf ein<br />
bisher etwas am Rande liegendes Problemfeld lenken: Den<br />
Einfluss der Rechtsprechung des EuGH auf unser nationales<br />
Verständnis von Tarifautonomie und die Funktion und Bedeutung<br />
von Tarifverträgen – hier könnte ein ganzes nationales<br />
Denkgebäude ins Wanken kommen. Dabei wird es am Ende<br />
meines Statements auch um die Auswirkungen des Verbots<br />
der Altersdiskriminierung auf Tarifnormen gehen.<br />
Ein aktuelles Urteil des EuGH vom Juli diesen Jahres in einem<br />
Vertragsstrafenverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland<br />
zeigt, zu welchen aus unserer Sicht jedenfalls auf den<br />
ersten Blick absurden Eingriffen in Tarifverträge es durch den<br />
EuGH kommen kann. Es geht um einen auf dem Gebiet der<br />
betrieblichen Altersversorgung geschlossenen Tarifvertrag<br />
des öffentlichen Dienstes – also die Höchststrafe für jeden<br />
Richter und ein scheinbar in jeder Hinsicht abseitiges Produkt<br />
der Tarifautonomie – das aber ungeahnte Folgewirkungen<br />
gezeitigt hat. Das BetrAVG gibt jedem Arbeitnehmer das<br />
Recht, von seinem AG die Umwandlung eines best. Anteils<br />
seines monatlichen Entgelts für die betriebliche Altersversorgung<br />
zu verlangen. § 17 BetrAVG enthält nun in seinem<br />
Absatz 5 die Einschränkung, dass bei Entgeltansprüchen, die<br />
auf einem Tarifvertrag beruhen, eine Entgeltumwandlung<br />
nur vorgenommen werden kann, soweit dies durch den<br />
Tarifvertrag zugelassen ist oder durch Tarifvertrag vorgesehen<br />
ist. Im öffentlichen Dienst ist für den Bereich der Kommunalen<br />
Arbeitgeber daraufhin der TV Entgeltumwandlung 4 geschlossen<br />
worden, der u.a. vorsieht, dass die Entgeltumwandlung<br />
<strong>04</strong>/10<br />
Aufsätze<br />
nur bei bestimmten, in öffentlicher Hand stehenden Einrichtungen<br />
durchzuführen ist. Nur bei diesen Einrichtungen<br />
können also Versicherungsverträge abgeschlossen werden.<br />
So entgeht den privaten Versicherern ein angesichts der<br />
Millionen bei den Kommunen beschäftigten AN äußerst<br />
lukratives Geschäft. Damit waren sie nicht einverstanden,<br />
haben die Kommission eingeschaltet und so kam es zu einem<br />
Vertragsstrafenverfahren wegen einer Verletzung der Vergaberichtlinie,<br />
das im Juli mit einem Urteil abgeschlossen worden<br />
ist. 5 Der EuGH hat festgestellt, dass die Bundesrepublik<br />
Deutschland gegen die Verpflichtungen verstoßen hat, die<br />
sich für sie aus den Vergaberichtlinien ergeben haben, soweit<br />
Versicherungsverträge nach dem TV Entgeltumwandlung in<br />
Kommunen bestimmter Größe ohne vorherige Ausschreibung<br />
vergeben worden sind. Im ersten Moment bleibt einem da der<br />
Mund offen stehen. Bei genauerem Hinschauen hat der EuGH<br />
im Ergebnis die Grundentscheidung der Tarifvertragsparteien<br />
zur Durchführung der Entgeltumwandlung akzeptiert und<br />
lediglich die Beschränkung der Entgeltumwandlung auf<br />
bestimmte Anbieter als unvereinbar mit der Vergaberichtlinie<br />
als höherrangigem Recht angesehen.<br />
Was an dieser Entscheidung den am nationalen Verständnis<br />
geschulten Betrachter so irritiert, ist gar nicht einmal das Ergebnis<br />
an sich: Die Tarifnorm hätte wohl auch einer Prüfung<br />
am nationalen Maßstab nicht standgehalten. Ich kann mir jedenfalls<br />
nicht vorstellen, dass ein Tarifvertrag, der regelt, dass<br />
bei ausschreibungspflichtigen Projekten öffentliche Auftraggeber<br />
nur Baufirmen an der Ausschreibung beteiligen dürfen,<br />
die zu mindestens 50% in öffentlicher Hand sind, als vereinbar<br />
mit den nationalen Vergabebestimmungen angesehen<br />
würde.<br />
* Der Vortrag wurde auf der 60. Tagung der Arbeitsgemeinschaft<br />
Arbeitsrecht im DAV vom 17.-18. September <strong>2010</strong> in<br />
Erfurt gehalten. Die Vortragsform wurde beibehalten.<br />
1 Lutter, ZIP 1994, 1514.<br />
2 Junker, ZfJ 1995, 64.<br />
3 Kocher, in: Fischer-Lescano/Rödl/Schmid Europäische Gesellschaftsverfassung,<br />
161.<br />
4 Tarifvertrag zur Entgeltumwandlung für Arbeitnehmer/innen<br />
im kommunalen öffentlichen Dienst (TV-EUmw /VKA)<br />
vom 18.2.2003.<br />
5 EuGH 15.07.<strong>2010</strong> – C-271/08.<br />
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