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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 40 · 1 6./17. Februar 2019 – S eite 25<br />
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Berlinale<br />
Das fliegende Auge:<br />
Filmklassiker für die<br />
Flimmerkiste<br />
Seite 28<br />
„Der Teufel leistete erstklassige Arbeit.“<br />
Notiert Brecht nach einem Herzanfall in sein Tagebuch. Nun wird der Dichter fürs Fernsehen wieder lebendig. Seiten 26 und 27<br />
Noch<br />
einmal:<br />
Danke, Anke!<br />
Anke Engelke moderiert<br />
die Berlinale-Gala<br />
VonCornelia Geißler<br />
Ihr erstes Interview mit Nina Hagen<br />
und Udo Lindenberg sei so<br />
schlimm gewesen, dass es ihr noch in<br />
der Hölle vorgespielt werde. Dassagte<br />
sie mal im Gespräch mit der <strong>Berliner</strong><br />
<strong>Zeitung</strong>. Wir konnten uns das gar<br />
nicht als so schrecklich vorstellen,<br />
weil wir ihre Art des Fragenstellens<br />
doch als so charmant wie klug kannten.<br />
Aber sie war noch ein Kind.<br />
Richtet man eine Kamera auf<br />
Anke Engelke,geht sie so beherzt auf<br />
Prominente zu, findet sie für jeden<br />
noch so kleinen Dialog unerwartete<br />
Knackpunkte, dass es immer unterhaltsam<br />
ist. Legendär in der Kategorie<br />
Festival-Eröffnung war ihre Begegnung<br />
mit<br />
James Franco<br />
2015 im Berlinale-Palast.<br />
Ohne Kamera,<br />
mit normalen<br />
Menschen<br />
im Kinosaal,<br />
scheut sie ein of-<br />
Fragen und staunen:<br />
AnkeEngelke<br />
Bärenkopf<br />
DPA<br />
fenes Gespräch<br />
auch nicht, wie<br />
regelmäßige Berlinale-Besucher<br />
wissen, die zufällig<br />
vor oder neben ihr sitzen. Da sind<br />
ihre Sätze nicht geplant provokant<br />
oder witzig. Da zeigt sich Anke Engelke<br />
einfach als Kinoliebhaberin.<br />
Wahrscheinlich braucht es diese<br />
Grundlage, die Liebe zum Film, um<br />
auf den Berlinale-Galas so munter<br />
und vorgeblich respektlos auftreten<br />
zu können. Da quasselt sie auch über<br />
ein verunglücktes Kleid hinweg wie<br />
zur diesjährigen Eröffnung (über einem<br />
weißen Trägerhemdchen<br />
schlangen sich kreuz und quer grüne<br />
Bademantelgürtel). Hoffentlich hat<br />
man für Sonnabend etwas Schöneres<br />
für sie ausgesucht. Es wirdjaaller Voraussicht<br />
nach ihre letzte Berlinale-<br />
Gala-Moderation sein. Werweiß, ob<br />
die Filmfestspiele ab dem nächsten<br />
Jahr überhaupt noch so glamourös<br />
eröffnet und beschlossen werden<br />
wie in den Jahren mit Dieter Kosslick<br />
und Anke Engelke an seiner Seite.<br />
1965 als Tochter eines Lufthansa-<br />
Managers und einer Fremdsprachenkorrespondentin<br />
im kanadischen<br />
Montreal geboren, wuchs<br />
Anke Engelke dreisprachig auf –mit<br />
Deutsch, Englisch und Französisch.<br />
1971 zog die Familie nach Rösrath<br />
bei Köln. Schon früh moderierte sie<br />
Kindersendungen im ZDF, und als<br />
sie am 25. September 1980 furchtlos<br />
in „Bios Bahnhof“ (WDR) auftrat,<br />
sagte Alfred Biolek, so habe schon<br />
manche Fernsehkarrierebegonnen.<br />
Der große Showmaster sollte<br />
recht behalten. Lange Zeit war sie<br />
eine der wenigen witzigen Frauen im<br />
deutschen Fernsehen, in der Sat.1-<br />
„Wochenshow“, in der Comedy-Serie„Anke“,<br />
als „Ladykracher“. Inzwischen<br />
bekommt sie mehr und mehr<br />
Rollen im Kino, meist ulkige wie in<br />
„Frau Müller muss weg“ oder<br />
„HappyBurnout“. Für die neue Zeitrechnung<br />
wünschen wir uns Anke<br />
Engelke noch mehr im ernsten Fach.<br />
Daskann sie auch.<br />
Zhao Yanguozhang aus dem<br />
Film „So long,myson“.<br />
Der Berlinalechef Dieter Kosslick begrüßt seine Gäste.<br />
Mit letzter Kraft<br />
Schwacher Wettbewerb, müdes Publikum –die Berlinale ist bereit für neue Ideen unter ihrer neuen Leitung<br />
VonFrank Junghänel<br />
Erst fällt der finale Film aus<br />
und jetzt auch noch der<br />
Streik. Für den Protest der<br />
BVGler kann Dieter Kosslick<br />
nichts, aber auf die Stimmung<br />
drückt er schon. Seit ein paar Tagen<br />
hat man das Gefühl, die Berlinale<br />
unter ihrem scheidenden Direktor<br />
schleppt sich mit letzter Kraft ins<br />
Ziel. Zu Beginn des Festivals wurde<br />
er mit stehenden Ovationen gefeiert,<br />
nun, 16 Wettbewerbsfilme später, ist<br />
bei vielen Ernüchterung eingekehrt.<br />
Was die Bären-Konkurrenz betrifft,<br />
ließ Dieter Kosslicks Abschied nach<br />
18 Jahren Direktorat künstlerische<br />
Attraktionen ebenso vermissen wie<br />
Publikumslieblinge. Nun gehört das<br />
Wort vom schwachen Wettbewerb<br />
zur Berlinale wie der Nieselregen am<br />
Potsdamer Platz. Selten jedoch war<br />
es derartzutreffend wie diesmal.<br />
So kommt es, dass am Tag der<br />
Preisverleihung kein Favorit in die<br />
Gala geht. Im Grunde könnte jeder<br />
zweite Film einen Bären bekommen<br />
oder auch nicht. DasVotum der Jury<br />
dürfte in jedem Falle überraschend<br />
Catherine Deneuve und ihr Regisseur<br />
André Téchiné.<br />
Geraldine Chaplin wardiesmal<br />
im Panorama zu Gast.<br />
ausfallen, vermutlich jedoch ohne<br />
für größereDiskussionen zu sorgen –<br />
was wiederum zum Spirit dieses müden<br />
Jahrgangs passen würde.<br />
Bei einigen heimischen Kritikern<br />
liegt der deutsche Beitrag „Ich war<br />
zuhause, aber“ von der <strong>Berliner</strong> Regisseurin<br />
Angela Schanelec auf den<br />
Punktezetteln vorn. Mal sehen, was<br />
die Internationale Jury unter Leitung<br />
vonJuliette Binoche mit diesem Film<br />
anfangen kann, der sich erprobten<br />
Erzählmusternund gängigen Sehgewohnheiten<br />
verweigert und ihnen<br />
eine ganz eigene Auffassung von<br />
Kino entgegensetzt, der nicht jeder<br />
folgen konnte oder wollte.Jedenfalls<br />
war das ein Film, der Irritationen<br />
auslöste.Was schon mal gut ist.<br />
Seinem Motto vom Privaten im<br />
Politischen wurde das Programm in<br />
fast jedem Film gerecht. Der Zerfall<br />
von Familienstrukturen unter dem<br />
Druck sozialer Verhältnisse zog sich<br />
von der tröstlichen Eröffnung mit<br />
Lone Scherfigs Manhattan-Märchen<br />
„The Kindness of Strangers“ bis hin<br />
zum bewegenden Schluss in dem<br />
chinesischen Epos „Solong, my son“<br />
durch die Konkurrenz. In einer Zeit<br />
Der kanadische Schauspieler Jan-Michel<br />
Anctil aus „Ghost Town Anthology“.<br />
Charlotte Rampling wurde mit<br />
dem Ehren-Bären gewüdigt.<br />
Bilanz<br />
Agnes Varda zeigte ihren Film<br />
im Wettbewerb.<br />
und einer Welt bedrohter oder längst<br />
schon zerstörter gesellschaftlicher<br />
Strukturen bildet die Familie oft den<br />
einzigen Raum, in dem ein Gefühl<br />
vonZugehörigkeit zu finden ist. Und<br />
so kreisten die Filme immer wieder<br />
um die Schwierigkeit, individuelle<br />
Behauptung und familiäre Bindung<br />
in Einklang zu bringen.<br />
Ein Sujet, das jeden betrifft, aber<br />
kaum ein Film ging einem am Ende<br />
so an die Nieren und dabei derartauf<br />
die Nerven wie „Systemsprenger“<br />
vonNoraFingscheidt. DieBerlinale-<br />
Debütantin erzählt die Geschichte<br />
eines neunjährigen Mädchens, das<br />
sich nicht einordnen, geschweige<br />
denn unterordnen kann. Der Film<br />
mag seine dramaturgischen Mängel<br />
haben, aber an einem fehlt es nicht –<br />
an Lebensenergie. Die Präsenz der<br />
Hauptdarstellerin Helena Zengel ist<br />
so enorm, dass sich mancher nun<br />
fragt, ob eigentlich auch ein Kind<br />
den Darstellerpreis gewinnen kann.<br />
Zumal sich bei diesem von Frauen<br />
geprägten Festival seltsamerweise<br />
sonst kaum jemand aufdrängt. Vielleicht<br />
hat Zorica Nusheva aus dem<br />
mazedonischen Film „God Exists,<br />
Tilda Swinton und ihre Tochter Honor<br />
stellten den Film „The Souvenir“ vor.<br />
Christian Bale wareiner der<br />
wenigen Hollywoodstars.<br />
GETTY (3), DPA (3), AFP (3), AP<br />
Her Name is Petrunya“ eine Chance<br />
oder die drei Schwestern aus dem<br />
türkischen Beitrag „A Tale of Three<br />
Sisters“, aber sonst? Bei den Männern<br />
ist es ähnlich, hier kommt im<br />
Grunde nur der Israeli TomMercier<br />
aus „Synonymes“ infrage.<br />
Die letzte Berlinale unter Dieter<br />
Kosslick war deutlich voneinem Gefühl<br />
der gegenseitigen Erschöpfung<br />
erfüllt. Mit seinem sehr speziellen<br />
Charisma hat er das Festival über<br />
Jahre geprägt wie kaum ein Direktor<br />
vorihm. Aber nun ist es auch gut. Es<br />
ist eben nicht nur „eine Handvoll<br />
übersäuerter Kritiker“, wie Kosslick<br />
meint, die Lust auf neue Ideen, eine<br />
in Teilen auch neue Programmatik<br />
und neue Gesichter haben. Es fiel<br />
auf, dass einige Vorstellungen nicht<br />
so gut besucht waren, wie man das in<br />
Berlin gewohnt war. Nicht nur die<br />
Filmbranche verändert sich gerade<br />
radikal, sondernauch das Publikum.<br />
Die Festivalleitung unter Carlo<br />
Chatrian und Mariette Rissenbeek<br />
muss in den nächsten Jahren Antworten<br />
auf Fragen finden, die sie heute<br />
noch gar nicht kennen. Es geht um<br />
nicht weniger als die Berlinale 4.0<br />
Der italienische Autor Roberto Saviano<br />
schrieb das Buch zu „Piranhas“.<br />
Wettbewerb (außer Konkurrenz)<br />
Kein Konzert,<br />
ein<br />
Gottesdienst<br />
Aretha Franklin<br />
mit „Amazing Grace“<br />
VonSusanne Lenz<br />
Die große Soulsängerin Aretha<br />
Franklin musste erst sterben,<br />
damit dieser Film gezeigt werden<br />
konnte.Schon 2015 hätte er auf dem<br />
Festival in Toronto laufen sollen,<br />
doch sie verhinderte es. Nachdem<br />
man ihn gesehen hat, versteht man<br />
nicht warum. Er ist großartig.<br />
„Amazing Grace“ entstand 1972,<br />
da war „Respect“ schon erschienen,<br />
auch andereHits,sie hatte Preise gewonnen.<br />
Mit dem nächsten Album<br />
wollte sie, die Tochter eines Baptistenpredigers,<br />
zurück zu ihren Wurzeln.<br />
An zwei Abenden nahm sie in<br />
einer Baptistenkirche in Los Angeles<br />
livedas Album „Amazing Grace“ auf,<br />
ihr erfolgreichstes und das meistverkaufte<br />
Gospelalbum aller Zeiten. Im<br />
Auftrag von Warner Bros Records<br />
filmte Sidney Pollack diesen Prozess,<br />
dann gab es zunächst technische<br />
Probleme,die verhinderten, dass ein<br />
Film daraus wurde.<br />
Jetzt ist er da, und er besteht fast<br />
nur aus Musik, vor allem aus traditionellem<br />
Gospel, dazu ein bisschen<br />
Marvin Gaye und Carole King.<br />
Der enthusiastische Southern California<br />
Community Chor in seinen<br />
mit silbernen Pailletten besetzten<br />
Aretha Franklin in dem Dokumentarfilm<br />
„Amazing Grace“ von 1972 AMAZING GRACE MOVIE<br />
Westen ist im Einsatz, Ehrwürden<br />
James Cleveland hat die musikalische<br />
Leitung, alle schwitzen unter<br />
den Scheinwerfern, und immer<br />
wieder zeigt die Kamera Aretha<br />
Franklin. In augenfälliger Siebzigerjahre-Robe,<br />
die einen Gegensatz<br />
zu ihrem schlichten kurzen<br />
Afro bildet, steht sie hinter einer<br />
Art Kanzel. Das ist kein Konzert,<br />
das ist ein Gottesdienst.<br />
Aretha Franklin hat eine unglaubliche<br />
Stimme, der Film führt esvor.<br />
Doch er bezeugt auch, dass diese<br />
nicht allein die ungeheure Anziehungskraft<br />
ihrer Kunst begründet. Es<br />
ist ihre Fähigkeit, ihren Vortrag von<br />
innen zu durchdringen, mit dem<br />
Körper, mit ihrem ganzen Wesen,<br />
und so durchlässig zu sein, dass<br />
diese Inbrunst sich überträgt. Ihre<br />
Augen hält sie meist geschlossen,<br />
doch auch ohne Blickkontakt entsteht<br />
ein inneres Band zu dem Chor,<br />
zum Publikum in den Kirchenbänken,<br />
in dem sich am zweiten Abend<br />
Mick Jagger und Charlie Watts befinden.<br />
DieMenschen springen auf, sie<br />
weinen, lachen, tanzen, rufen. Selbst<br />
im Kino kommen einem die Tränen.<br />
Es ist eine Erlösung.