Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
6 16./17. FEBRUAR 2019<br />
Glücklich in der<br />
Finsternis<br />
Im Norden von Finnland gibt es kaum Menschen, im<br />
Winter ist es sehr kalt, und die Sonne geht erst gar<br />
nicht auf. Wieertragendas die Bewohner?<br />
VonElise Landschek<br />
Kennt 300 Wortefür Schnee: Petteri Valle mit einem seiner Rentiere.<br />
ELISE LANDSCHEK<br />
Schneeflocken wirbeln vor den<br />
Scheinwerfern, von der vereisten<br />
Fahrbahn ist trotz Fernlicht nur ein<br />
kleiner heller Ausschnitt zu sehen,<br />
dann verschluckt Dunkelheit die Straße.<br />
Brita Päyeri wischt die beschlagene<br />
Frontscheibe ihres Fords frei, greift das<br />
Lenkrad fester und gibt Gas. Sie ist Taxifahrerin<br />
in Ivalo, mit 3400 Einwohnern der<br />
größte Ortimfinnischen Teil Nordlaplands.<br />
Die Region ist eine der am dünnsten besiedelten<br />
Europas, hier leben mehr Rentiere<br />
als Menschen. DerTourismusverband lockt<br />
mit dem Versprechen auf unendliche Ruhe<br />
und Einsamkeit. Es gibt einen Werbespot<br />
über das „Nichts“ als besondere Attraktion<br />
für gestresste Großstädter.<br />
Brita Päyeri wurde vor 54Jahren in Ivalo<br />
geboren, seit zwanzig Jahren fährt sie mit ihremTaxi<br />
Gäste vom Flughafen zu ihren Ferienhäusernund<br />
Hotels.Manchmal über hundertKilometer<br />
hinein in die Einöde.Sie mag<br />
ihren Job. „Die Leere macht den Kopf frei<br />
und die Gedanken tief“, sagt sie. Gerade<br />
jetzt zur Zeit der Polarnächte von Ende November<br />
bis Anfang Februar, indenen die<br />
Sonne den Horizont über Wochen nicht<br />
mehr übersteigt.<br />
Die Finnen haben für diese dunkle Periode<br />
im Jahr ein eigenes Wort: Kaamos. Sie<br />
verfluchen und sie lieben Kaamos, sagt<br />
Brita Päyeri. DasTageslicht mache sich zwar<br />
rar, aber wenn es dann mal käme,sei es unvergleichlich.<br />
Zwischen 11 und 13 Uhrüberspannt<br />
ein blaurosa Zwielicht die Landschaft.<br />
Danach übernimmt eine tiefe dunkelblaue<br />
Dämmerung, bis die Dunkelheit<br />
kommt und die Polarlichter mit ihrem<br />
Schauspiel beginnen. Dann fährt Brita<br />
Päyeri mit ihrem Taxi manchmal auf eine<br />
Hügelkuppe in der Nähe von Ivalo, von wo<br />
aus der Blick weit über die Tundra reicht.<br />
DiePolarlichter würden sie mit der Dunkelheit<br />
versöhnen, sagt Päyeri, und sie auch<br />
nach so vielen Jahren immer nochanrühren.<br />
Die Finnen sind dem „World Happiness<br />
Report 2018“ der Vereinten Nationen zufolge<br />
das glücklichste Volk der Erde. Dazu untersuchten<br />
die Forscher Faktoren wie Wohlstand,<br />
Lebenserwartung, Korruption und<br />
Freiheit, überall schneidet Finnland überdurchschnittlich<br />
gut ab.Trotzdem ist das Leben<br />
hier nicht immer unbeschwert -–vor allem<br />
im Winter.Alkoholismus ist ein Problem,<br />
gerade im dunklen Norden des Landes, die<br />
Suizidraten steigen hier im Winter auf ein<br />
Vielfaches des Jahresdurchschnitts.<br />
Der finnische Winter ist lang, sehr lang.<br />
Manchmal dauert ermehr als ein halbes<br />
Jahr.ImJanuar,wenn die Nächte schwärzer<br />
werden und keine Weihnachtsbeleuchtung<br />
mehr idyllische Stimmung verbreitet, dann<br />
beginnt der ständige Kampf um die gute<br />
Laune. Der Lichtmangel macht sich bemerkbar,<br />
denn Sonnenlicht regt den<br />
Serotoninstoffwechsel an. Zu wenig Serotonin<br />
schlägt auf die Stimmung. DieVitamin-<br />
D-Produktion läuft auf Sparflamme, das<br />
lässt die Knochen schmerzen.<br />
Menschen, die keine Familie haben oder<br />
keine Arbeit, sind besonders gefährdet. „Ich<br />
stürze mich in die Arbeit, um der Depression<br />
zu entfliehen, und stelle mir oft den<br />
Sommer vor, mit seinen Nächten, in denen<br />
die Sonne nicht mehr untergeht. Dasmacht<br />
das Warten erträglicher“, sagt Brita Päyeri.<br />
Morgens helfe ihr eine Tageslichtlampe, ihr<br />
künstlicher Sonnenaufgang. Viele Finnen<br />
würden im Winter ins Ausland gehen. Viele<br />
jungeLeute blieben dann für immer weg. Für<br />
PäyeriseiWegziehen keine Option.JederWinter<br />
ist schließlich irgendwann vorüber.<br />
RAINE NIEMI BEGRÜSST Päyeri mit Handschlag,<br />
sie setzt täglich Touristen bei ihm ab.<br />
Anders als sie sehnt Niemischon im Sommer<br />
den Winter herbei. Denn der bedeutet für ihn<br />
Arbeit. Niemiist 33 und besitzt etwa zwei Dutzend<br />
Alaska-Huskies, muskulöse Schlittenhunde<br />
mit graubraunem Fell und durchdringenden,<br />
hellblauen Augen. „Ich bin ein<br />
Wintermensch“, sagt er. „Für mich gibt es<br />
nichts Besseres,als mit dem Schlitten durch<br />
die verschneite Landschaft zu fahren, ganz<br />
allein mit den Hunden. Im Sommer langweile<br />
ich mich oft und kann nachts nicht<br />
schlafen, weil es so hell ist.“ Einsam habe er<br />
sich noch nie gefühlt. Niemi hat sich mit<br />
mehreren Hundebesitzern zusammengetan<br />
und ein Grundstück mitten im Wald<br />
nördlich vonIvalo gepachtet.<br />
„Im Sommer<br />
langweile ich mich<br />
oft und kann nachts<br />
nicht schlafen,<br />
weil es so hell ist.“<br />
Raine Niemie, 33,<br />
bietet im Winter Hundeschlittenfahrten<br />
für gestresste Großstädter an.<br />
Durchdie schneebeladenenKiefern dringt<br />
schon von weitem Gebell und Gejaule. Die<br />
Hunde sind nervös,rempeln sich gegenseitig<br />
in ihren Ledergeschirren in die Seite. Während<br />
der helleren Stunden am Mittag werden<br />
dieTiere vordie großen, mit Rentierfellen gepolsterten<br />
Schlitten gespannt, um Touristen<br />
durch die Landschaft zu ziehen oder um mit<br />
ihren Besitzern für wichtige Schlittenhunderennen<br />
zu trainieren, die viel Geldeinbringen.<br />
Dieses Jahr habe die Saison erst spät begonnen,<br />
erzählt Niemi. Der Schnee ließ bis zum<br />
November auf sich warten, der Herbst war<br />
ungewöhnlich lang und warm. Erst ab einer<br />
Schneehöhe von 30bis 50 Zentimetern kann<br />
er die Hunde anspannen, ansonsten sinken<br />
die schwer beladenen Schlitten bis auf den<br />
felsigen Untergrund. Auch bei minus 20 Grad<br />
istRiemi fast den ganzen Tagdraußen bei seinen<br />
Tieren.AmAbend heizen dieHundeführer<br />
die runden Saunahütten an und trinken<br />
zusammen finnischen Wodka. Dashelfe ganz<br />
wunderbar gegen die Kälte.Einmal habe er im<br />
Süden Urlaub gemacht, in Thailand, erzählt<br />
Niemi. DieHitzesei schrecklich gewesen.„Bei<br />
Kälte kann man sich ja zusätzlich etwas anziehen,<br />
aber wenn es zu warm ist, dann kann<br />
man ja irgendwann nichts mehr ausziehen.“<br />
ES GEHT NOCH WEITER hinauf in den Norden.<br />
Etwa 180 Kilometer von Ivalo entfernt wachsen<br />
nicht einmal mehr Bäume. Eine einzige<br />
menschenleere Straße zieht sich durch die<br />
karge, nordfinnische Tundra, das „Nichts“<br />
entfaltet seine ganze Pracht. Mitten im<br />
„Nichts“ liegt Utsjöki, ein kleines Dorf am<br />
Grenzfluss zu Norwegen. Nur ein paar Kilometer<br />
weiter nördlich beginnt die Barentssee,<br />
und dann ist auch der Nordpol nicht mehr<br />
weit. Im Winter fallen die Temperaturen in<br />
Utsjökihäufig bis auf minus 40 Grad.<br />
Hier ist Petteri Valle geboren und aufgewachsen,<br />
hier lebt er noch heute. Valle ist<br />
Same, er stammt von den Ureinwohnern<br />
Lapplands ab, die sich eigene Traditionen<br />
und auch eine eigene Sprache bewahrt haben.<br />
Für „Schnee“ kennen schon die Finnen<br />
etwa 40 verschiedene Worte, die Samen sogar<br />
300. Sie unterscheiden zwischen<br />
Schnee, der in kleinen Bergen auf Büschen<br />
und Bäumen liegt, der dünnen Schicht<br />
Schnee auf einem zugefrorenen See oder<br />
dem von Rentieren platt getrampelten<br />
Schnee in der Tundra.<br />
Valle trägt einen Mantel und Schuhe aus<br />
Rentierfell, das sei die beste Kleidung gegen<br />
die extreme Kälte,sagt er,„viel besser als die<br />
teuren Plastik-Outdoor-Klamotten der Besucher<br />
aus dem Süden“. Er züchtet Rentiere,<br />
wie es seine Vorfahren schon seit mehreren<br />
Jahrhunderten getan haben. Wie groß seine<br />
Herde ist, will er nicht sagen, die Frage gelte<br />
als unhöflich und sei in etwa so, als würde<br />
man von einem Firmenchef die Höhe seines<br />
Jahresgehalts wissen wollen. Die monatelange<br />
Dunkelheit mache ihm nichts aus.„Der<br />
Mond und die Polarlichter erleuchten doch<br />
ab dem Nachmittag die weiten Schneeflächen,<br />
außerdem habe ich gute Augen.“<br />
Valle steht jeden Tagumfünf Uhr auf, im<br />
Sommer wie im Winter. Für die Fütterung,<br />
den Tierarztbesuch oder die Schlachtung<br />
treibt er die halbwild lebenden Rentieremit<br />
dem Schneemobil oder sogar dem Helikopter<br />
zusammen, nicht mehr mit dem<br />
Hundeschlitten, wie früher seine Eltern.<br />
„Als ich ein Kind gewesen bin, vor50Jahren,<br />
hat es im Dorf nicht mal Elektrizität gegeben“,<br />
erinnert sich Valle. Statt Taschenlampen<br />
hätten die Menschen draußen Öllampen<br />
und Fackeln benutzt, und abends sei<br />
man mit der ganzen Familie amFeuer zusammengesessen<br />
und habe sich endlos<br />
Märchen oder Klatsch und Tratschaus dem<br />
Dorf erzählt. Das sei spannender gewesen<br />
als jedes Fernsehprogramm, sagt Valle.<br />
„Heute hängen die Kinder in den dunklen<br />
Monaten eher am Smartphone oder vor<br />
dem Fernseher“, klagt Valle. Erselber treffe<br />
sich lieber mit seinen Freunden oder verbringe<br />
Zeit mitseiner Frau.Das seisein Mittel<br />
gegendieWinterdepression.<br />
Wenn Gäste vom Winter inDeutschland<br />
erzählen, dem Nieselregen, dem Grau in Grau<br />
vonNovemberbis April, dann schüttelt es ihn.<br />
Niemals würde er es dort lange aushalten.<br />
SeineWelt ist der Schnee, die klare Kälte und<br />
dieDunkelheit.<br />
Elise Landschek<br />
zieht die klare Kälte des finnischen<br />
Winters dem Grau in Grau Berlins vor.<br />
BERLINER ENSEMBLE<br />
VonLea Streisand<br />
Es fällt halt viel an (Frau K.)<br />
BLZ/REEG<br />
Ich bin 73 Jahre alt. Ich war vor der Rente<br />
arbeitslos. Ich habe studiert und eine<br />
Facharztausbildung für Neurologie und<br />
Psychiatrie gemacht. Ich hab aber hauptsächlich<br />
in der Psychiatrie gearbeitet. Nach<br />
der Wende haben die dann versucht, die<br />
ganzen Fachärzte loszuwerden. Vor der<br />
Wende war das auch schwierig, das war<br />
alles ziemlich autoritär, und das Krankenhaus<br />
war auch dafür bekannt, dass es da<br />
ziemlich viele Stasi-Leute gab.Der Chefarzt<br />
von der Psychiatrie, ein Stasi-Mann, hat<br />
nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen,<br />
aber mich in meiner Beurteilung als „sozial<br />
imbezil“ eingeschätzt. Undich wurde schief<br />
angeguckt, weil mein Mann psychisch<br />
krank war. „Falsche Partnerwahl“, das hat<br />
mir ein ärztlicher Direktor gesagt.<br />
Dann kam die Wende, und ich wurde in<br />
die Behinderten-Abteilung versetzt. Da<br />
wurde ich richtig gemobbt. Alle wollten einen<br />
Grund finden, damit sie mich loswerden<br />
konnten. Ichhab dann vordem Arbeitsgericht<br />
geklagt. Die haben gesagt, ich<br />
könnte die Stelle behalten oder aber eine<br />
höhere Abfindung bekommen. Ich hab<br />
dann lieber aufgehört. Das war 1993. Seitdem<br />
habe ich nicht mehr gearbeitet.<br />
Ich hab dann durch eine Kollegin die<br />
Möglichkeit gehabt, Betreuungsgutachten<br />
fürs Gericht zu schreiben. Das mach ich bis<br />
heute.Ich hab mich da gut eingearbeitet, in<br />
letzter Zeit ist es schon fast zu viel, da mein<br />
Mann inzwischen pflegebedürftig ist. Wir<br />
haben auch eine Pflegehilfe. Die waschen<br />
ihn und spritzen das Insulin. Zwischendurch<br />
ging es ihm auch schon schlechter.<br />
Er ist schon länger Invalidenrentner<br />
durch die Psychose. Erhat dann noch mit<br />
dem Rücken dazu gekriegt, diverse körperliche<br />
Sachen, ein Bauchbruch. Übergewicht<br />
und Diabetes, die Bauchspeicheldrüse ist<br />
futsch. Vorher ist er noch Fahrrad gefahren.<br />
Er hat auch die falschen Ess- und Trinkgewohnheiten.<br />
Es fällt halt viel an.<br />
Und dann hab ich meine sechs Katzen.<br />
Eine große Geschichte ist die, woich meinen<br />
Cäsar in der Mülltonne gefunden habe.<br />
Das war ein ganzer Katzenwurf, alle schon<br />
tot, bis auf einen. Der musste mit der<br />
Flasche großgezogen werden. Und da<br />
musste man mit dem Finger in den Hintern<br />
rein, damit der noch Stuhlgang bekommt.<br />
Den konnte man nicht alleine lassen. Cäsar<br />
ist 17 Jahre alt geworden und hatte dann<br />
was mit der Niere.<br />
Irgendwann hab ich mir dann einen großen<br />
Kater, der soähnlich aussah, aus Marzahn<br />
geholt. Aber der war völlig anders als<br />
mein Cäsar im Charakter.Ich hab noch eine<br />
Freundin, ’ne kleine Schwarze, für ihn geholt,<br />
weil er ja Sozialkontakte haben sollte.<br />
Unddannkam ein fremder schwarzerKater,<br />
und sie war noch nicht sterilisiert. Und<br />
dann kam eins zum anderen.<br />
MitmeinenKindernist der Kontakt nicht<br />
mehr so doll. Ich hab zwei Söhne. Früher<br />
bin ich oft mit ihnen alleine in den Urlaub<br />
gefahren, weil mein Mann nicht dazu in der<br />
Lage war. Jetzt fahr ich gar nicht mehr weg,<br />
geht ja nicht.<br />
Mit den Katzen hab ich ja auch mein<br />
Reich, das geht nicht ohne mich, da bin ich<br />
unentbehrlich. Glaubschon, dass ich da gebraucht<br />
werden will.