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10 ** <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 120 · 2 5./26. Mai 2019<br />
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Berlin<br />
Harmsens Berlin<br />
Hättste,<br />
hättste<br />
Torsten Harmsen<br />
blickt auf seine eigenen<br />
Wahl-Erfahrungen zurück.<br />
Heute geht’s mal um was anderes.<br />
„Es handelt sich nämlich bessüchlich<br />
der Wahlen“, wie Kurt Tucholsky<br />
formulierte. Dessen Satire<br />
„Ein älterer, aber leicht besoffener<br />
Herr“ hat einst mein Bild vonWahlen<br />
in der bürgerlichen Demokratie geprägt.<br />
Tucholsky schildert darin, wie<br />
ein Mann vor den Reichstagswahlen<br />
1930 von Partei zu Partei läuft, denn<br />
er will mal ein „bißken rumhörn, wat<br />
die Leite so wählen dun“.<br />
Überall, wo er hinkommt, gibt’s Alkohol<br />
–Asbach uralt bei der Deutschen<br />
Staatspartei, Bier bei den Sozis,<br />
„Brauselimmenade mit Schnaps“ bei<br />
den Nazis.AmEnde ist der Mann besoffen,<br />
hält eine wirre patriotische<br />
Rede und fällt aus dem Fenster.<br />
„Die Wahl is der Rummelplatz des<br />
kleinen Mannes!“, heißt es bei Tucholsky.<br />
„Einmal, alle vier Jahre, da<br />
tun wa so, als ob wa täten …“, aber<br />
„rejiertwernwadoch“.<br />
Genauso stellte ich mir, aufgewachsen<br />
im Osten Berlins, auch die<br />
Wahlen im Westen vor. Man konnte<br />
zwar frei, gleich und geheim wählen.<br />
Aber was änderte das? Das Kapital<br />
herrschte ja munter weiter, egal wer<br />
regierte. Und das Kapital –uh-uh! –<br />
war so etwas wie der Teufel. Damit es<br />
gar nicht erst in den Osten (zurück)kam,<br />
hatte man die führende<br />
Rolle „der Arbeiterklasse und ihrer<br />
marxistisch-leninistischen Partei“<br />
gleich in die Verfassung geschrieben.<br />
Ergo: Wahlen konnten gar keine echten<br />
Wahlen sein. Sie waren eher eine<br />
Manifestation mit Zettelfalten, um<br />
den Herrschaftsanspruch möglichst<br />
hundertprozentig zu bekräftigen.<br />
Mir war das im Grunde klar, wie<br />
den meisten anderen auch. Ich war<br />
damit aufgewachsen, begründete es<br />
mit dem „Klassenstandpunkt“. Doch<br />
je größer ich wurde, desto mehr sah<br />
ich, welche grotesken Züge es trug.<br />
Als studentischer„Wahlhelfer“ balancierte<br />
ich in den 80er-Jahren in einem<br />
Leipziger Altbaugebiet über<br />
morsche Treppen, um auch noch die<br />
letzten Leute zu bewegen, doch bitte<br />
wählen zu gehen. Auf dem Hof brachen<br />
die Mauern ein, es regnete<br />
durchs Dach. Nichtwählen –das war<br />
für die Bewohner die einzige Form<br />
des Protestes.Als junger Journalist erlebte<br />
ich dann 1989 mit, dass die„fliegende<br />
Wahlurne“ sogar zu einer 105-<br />
Jährigen gebracht wurde, die im Bett<br />
lag und sich geistig in der Kaiserzeit<br />
befand. Jemand führte ihreHand mit<br />
dem gefaltetenWahlzettel zur Urne.<br />
Das System der bürgerlichen<br />
Wahl-Demokratie lernte ich dann<br />
1990 aus der Nähe kennen. Ich war<br />
nicht glücklich über das Ergebnis der<br />
ersten Wahl. Aber ich habe seitdem<br />
keine einzige Wahl versäumt, insgesamt<br />
waren es etwa zwanzig. Ich bin<br />
froh, eine Stimme zu haben und<br />
heute bei einer Wahl auch wirklich<br />
voreinerWahl zu stehen.<br />
Natürlich habe ich Tucholskys<br />
„Rummelplatz des kleinen Mannes“<br />
nicht vergessen. Natürlich kenne ich<br />
auch die Kritik: dass Parteien vor der<br />
Wahl viel versprechen und hinterher<br />
nichts halten, dass derWähler einmal<br />
alle paar Jahre seine Stimme abgibt<br />
und den Rest der Zeit nichts zu sagen<br />
hat, dass Politiker und Bürokraten<br />
ohnehin machen, was sie wollen.<br />
Dass Wahlen dennoch etwas bewirken<br />
und Weichen stellen können,<br />
merkt man meist dann, wenn man<br />
hinterher geschockt ist, weil man<br />
„solch ein Ergebnis“ nicht erwartet<br />
hatte. Man sollte also auf alle Fälle<br />
hingehen, schon allein, um Schlimmeres<br />
zu verhindern. Auch wenn es<br />
vorher kein Freibier gibt.<br />
Ein Wahlwerbefilm, den ich neulich<br />
im Internet fand, fasste es bereits<br />
vormehr als 50 Jahren so zusammen:<br />
„Drumsag nicht: Istmir egal!,/ wenn<br />
du stehst vor einer Wahl./ Wernicht<br />
seine Stimme wagt,/ nachher<br />
,Hättste,hättste‘ sagt.“<br />
Wer den Europaplatz direkt<br />
vor dem <strong>Berliner</strong><br />
Hauptbahnhof tagsüber<br />
betritt, ist erst<br />
mal mit viel Lärm konfrontiert. Autos<br />
fahren in scheinbar endlosen Kolonnen<br />
vorüber, Menschen hasten<br />
über die Fahrbahn, um die Straßenbahn<br />
zu erreichen. Der eigentliche<br />
Platz ist nicht fertig. Nichtmal annähernd.<br />
Es wurden ein paar Fahrspuren<br />
für Busse ins Brachland asphaltiert.<br />
Unkraut wächst an manchen<br />
Stellen meterhoch. Daneben wird in<br />
einer riesigen Baugrube gearbeitet.<br />
Das kann ja wohl nicht die Idee<br />
von Europa sein, die Berlin einst<br />
dazu bewog, diesen Platz und später<br />
dann den ganzen Stadtteil, der sich<br />
dahinter erstreckt, nach Europa zu<br />
benennen. Aber welche ist es dann?<br />
An diesem Wochenende wird ein<br />
neues Parlament gewählt in Europa.<br />
Es gibt viel Kritik an der EU zurzeit.<br />
An den Staatenbund knüpfen sich<br />
ebenso viele Hoffnungen wie Ängste.<br />
Spürtman das in Berlins Europacity?<br />
Kann man überhaupt irgendetwas<br />
spüren von Europa auf dieser<br />
61 Hektar großen Fläche, auf der<br />
zurzeit Wohnungen für 6000 Menschenund<br />
Büros für 16 500 Beschäftigte<br />
entstehen?<br />
Bekenntnis zur Einheit<br />
Die Europacity, Berlins größte Entwicklungsfläche,<br />
zehnmal so groß<br />
wie der Potsdamer Platz, ist mittlerweile<br />
halbfertig. Auf der nördlichen<br />
Seite sind erste Gebäudeblöcke bewohnt.<br />
In Richtung Hauptbahnhof<br />
ragen Bürogebäude in den Himmel.<br />
Total hat hier einen Turm bezogen,<br />
KPMG, 50Hertz, große Namen,<br />
große Gebäude. Manches erinnert<br />
an die Hamburger Hafencity –nicht<br />
von ungefähr, sind doch zum Teil<br />
dieselben Entwickler dort aktiv gewesen.<br />
Manfühlt sich klein zwischen<br />
den Gebäuden.EuropäischimSinne<br />
kleinteiliger, gewachsener Altstädte<br />
ist nichts.Alles ist groß.<br />
Also welches Europa entsteht<br />
hier? Istesnur einName? Denhatten<br />
die BahntochterVivico,die Deutsche<br />
Bahn und das Land Berlin imJahr<br />
2008 in einemIdeenwettbewerb unter<br />
Kreativagenturen ermittelt.<br />
Schließlich habe man sich auf den<br />
Namen Europacity verständigt, um<br />
an diesem zentralen undgeschichtsträchtigen<br />
OrtinBerlin, dernicht zuletzt<br />
auch für die Teilung Deutschlandsstehe,ein<br />
klares, namentliches<br />
Bekenntnis zurEinheit Europas und<br />
zur Internationalität zu machen,<br />
heißt es beim Entwickler CA Immo,<br />
Große Gebäude, große Namen: Man kommt sich etwas verloren vor zwischen den Neubauten der Europacity. Wer sich an<br />
Hamburgs Hafencity erinnertfühlt, liegt nicht ganz falsch. Zum Teil waren die gleichen Architekten am Werk.<br />
der einen großen Teil der Fläche bebaut.<br />
Auf der Suche nach einer Antwort<br />
auf die Frage nach dem europäischen<br />
Charakter der Europacity<br />
kann man durch die Straßenschluchten<br />
spazieren und über Bauzäune<br />
spähen. Man findet überall<br />
Hinweise. Eine Antwort sind zum<br />
Beispiel die polnischen Bauarbeiter,<br />
deren Autos überall auf den Brachflächen<br />
parken. Siesind es,die diese<br />
Europacity letztlich errichten. Dass<br />
es größtenteils osteuropäische Ar-<br />
In Europas<br />
Namen<br />
61 Hektar Fläche, 3000 Wohnungen, 16 500 Beschäftigte –<br />
die Europacity am Hauptbahnhof ist vor allem groß. Aber ist<br />
sie auch europäisch? Ein Besuch anlässlich der Wahlen<br />
VonJulia Haak<br />
Alexis Hyman Wolff (links) und Yves Mettler mit ihren Baulatten. BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER (3)<br />
beitskräfte sind, die in Europa<br />
bauen, sagt etwas aus über die derzeitigeVerfassung<br />
des Staatenbunds,<br />
über ein Lohngefälle und überWohlstand,<br />
der ungleich verteilt ist. Ein<br />
europäisches Problem unserer Zeit<br />
ist auch der monströse Durchgangsverkehr,<br />
der sich über die Heidestraße<br />
mitten durch die City wälzt<br />
und eine Überquerung der Straße zu<br />
einem minutenlangen Unternehmen<br />
macht. An dieser Stelle, am<br />
Bordstein der Bundesstraße B96,<br />
fällt es schwer, den Gedanken des<br />
nachhaltigen Bauens, mit dem die<br />
Europacity für sich wirbt, mit der<br />
Wirklichkeit überein zu bringen.<br />
Aber auch das ist Europa –ein ständiger<br />
Widerspruch zwischen<br />
Wunsch und Wirklichkeit.<br />
Man kann dazu die Investoren<br />
befragen. Martin Rodeck zum Beispiel.<br />
Er leitet die Firma Edge Technologies,<br />
ein ursprünglich holländisches<br />
Unternehmen. Neben dem<br />
Hauptbahnhof errichtet die Firma<br />
das Edge Grand Central Berlin. „Das<br />
ist ein intelligentes Gebäude,das mit<br />
ressourcenschonenden Methoden<br />
gebaut und später auch betrieben<br />
wird“, sagt er.Rodeck gibt aber auch<br />
zu, dass man eine Europacity heute<br />
anders bauen würde als damals, als<br />
die Planungen entstanden sind.<br />
Heute würde man engere Straßen<br />
vorsehen mit Platz für E-Roller und<br />
Car-Sharing, mit mehr öffentlichem<br />
Nahverkehr. Die Mobilität der Zukunft<br />
sei damals nicht durchdacht<br />
worden, sagt Rodeck. Nun wird<br />
nachgebessert. Ein Rückbau der<br />
Straßen wird diskutiert. Wie überall<br />
in den Großstädten des Kontinents.<br />
Die interessanteste Antwort auf<br />
die Ausgangsfrage nach dem europäischen<br />
Charakter dieses Bauprojekts<br />
findet sich jedoch an einem unerwarteten<br />
Ort. Es ist ein Altbau,<br />
Hinterhof, im angrenzenden Bezirk<br />
Wedding, in Sichtweite der Baukräne,<br />
die in der Europacity stehen.<br />
Yves Mettler hat dortein kleines Atelier.Erist<br />
Künstler.<br />
Alles privat<br />
Yves Mettler findet, dass die Europacity<br />
sehr viel mit Europa zu tun hat.<br />
„So wie in der Europacity plant man<br />
in Europa heutzutage – in großen<br />
Einheiten mit Infrastruktur,Wohnen<br />
und Arbeiten, alles zusammen. Es<br />
wird alles privat gebaut. Es ist fast<br />
nichts öffentlich. In der Europacity<br />
wird eseinen öffentlichen Uferweg<br />
geben und den Otto-Weidt-Platz.<br />
Das ist alles. ImZuge der Entwicklung<br />
werden noch zwei Plätze entstehen,<br />
die privat entwickelt werden<br />
und dann der Öffentlichkeit überlassen<br />
werden. Dieses private Bauenist<br />
eine europaweite Entwicklung. Das<br />
muss nicht unbedingt schlecht sein,<br />
aber man weiß nicht so genau, was<br />
daraus wird“, sagt Mettler. InFrankfurtzum<br />
Beispiel, wo es ebenfalls ein<br />
Europaviertel gibt, habe man erst<br />
nach der Fertigstellung gemerkt, das<br />
es kaum Leben auf den Straßen gab,<br />
weil in den Erdgeschossen überall<br />
Büros waren.<br />
Gemeinsam mit Alexis Hyman<br />
Wolff und noch zwei anderen Künstlern<br />
veranstaltet Yves Mettler seit einem<br />
Jahr Spaziergänge für Nachbarn<br />
und Bewohner der City, umeinen<br />
Austausch zu ermöglichen, der bisher<br />
fehlt. Es geht um eine Beteiligung<br />
der Menschen vorOrt am Entstehen<br />
dieses neuen Stadtquartiers. Das<br />
Projektheißt „Am Rand vonEuropacity“<br />
und ist ein künstlerischer Versuch<br />
der Auseinandersetzung mit<br />
dem entstehenden Stadtteil.