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Berliner Zeitung 25.05.2019

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25./26. MAI 2019 7<br />

Das sattgrüne Blatt riecht nach<br />

Knoblauchund ein wenig pfeffrig.<br />

Eine ganz feine Note, gar<br />

nicht aufdringlich oder streng.<br />

Unscheinbar steht das Gewächs unmittelbar<br />

am Wegesrand im Grunewald, halb<br />

verdeckt vonLaubbäumen. Im Halbschatten<br />

gedeiht die Knoblauchsrauke am<br />

liebsten. Wir begutachten die grünen<br />

Blätter und hätten sie, wüssten wir es jetzt<br />

nicht besser, als Unkraut gebrandmarkt.<br />

Unter Kräuterfreunden ist die Knoblauchsrauke,<br />

die tatsächlich jahrelang ein<br />

Schattendasein führte, inzwischen kein<br />

Geheimtipp mehr.„Sieist richtig gesund“,<br />

sagt Manuel Larbig, der uns ein Blatt, das<br />

dem der Brennnessel ähnelt, unter die<br />

Nase hält. Dass sie gesund ist, wussten die<br />

Menschen schon vor 5000 Jahren, als die<br />

Natur noch Lebensquelle Nummer eins<br />

war. Im Mittelalter diente die Rauke als<br />

Ersatz für Pfeffer, der damals unbezahlbar<br />

war. Die Samen ergaben einen würzigen<br />

Wildkräutersenf. Was für ein Schatz am<br />

Wegesrand!<br />

ES IST EIN SONNIGER VORMITTAG, als wir<br />

Manuel Larbig an der Eichkampstraße<br />

treffen. Er kommt uns lässig aus dem Grunewald<br />

entgegengeschlendert, an seiner<br />

Seite sein Hund Rocko, ein Schäferhund-<br />

Collie-Mischling. Manuel Larbig wirkt wie<br />

ein Naturbursche, wie einer, der ständig<br />

draußen ist. Er trägt Shorts, ein T-Shirt<br />

und einen Rucksack. Larbig, 32, ist Biologe<br />

und seit Jahren Experte für Wildkräuter.<br />

Erveranstaltet Führungen und Seminare,<br />

in denen er Einblicke in die vielfältige<br />

Kräuterwelt gewährt.<br />

Schon nach zwei Minuten sind wir auf<br />

die Knoblauchsrauke gestoßen. Sie ist eines<br />

von Hunderten Wildkräutern inunseren<br />

Gefilden, die man verzehren kann.<br />

Und die zudem sehr gesund sind. Wer<br />

braucht da noch teures Superfood?<br />

Die Knoblauchsrauke beispielsweise<br />

könne man wunderbar in Joghurt schnibbeln,<br />

sagt Larbig. Eine Nacht ruhen lassen,<br />

und am nächsten Tagschmecke das<br />

Gericht nach Knoblauch. Ohne den gefürchteten<br />

Mundgeruch zu verursachen.<br />

WIR LERNEN NOCH MEHR: Knoblauchsrauke<br />

passt hervorragend in die kalte Küche<br />

– beispielsweise lässt sich damit<br />

selbstgemachte Kräuterbutter verfeinern,<br />

Wildkräuterfrischkäse oder -quark zubereiten.<br />

Genial schmecke sie auch als<br />

Pesto, sagt Larbig. Wir sammeln gleich<br />

mehrere Blätter ein – die man übrigens<br />

nicht mit den Messer abschneidet, sondern<br />

zupft, wie wir erfahren.<br />

Manuel Larbig lebt in Eberswalde. Er<br />

sei dort hängengeblieben, nachdem er an<br />

der Hochschule für nachhaltige Entwicklung<br />

studiert habe, erzählt er. Erlebt in einer<br />

WG, oft aber auch in einem Wohnwagen.<br />

Er esse bewusst, meide Fleisch und<br />

bevorzuge, wenn es dann doch auf den<br />

Tisch kommen solle, Wild. Zurzeit macht<br />

er seinen Jagdschein. Dieser Mann lebt<br />

das Leben eines Fast-Selbstversorgers.<br />

Ein wenig Neid keimt auf.<br />

Die Wildkräuter-Führungen kosten<br />

zwischen neun und 99 Euro. Die Nachfrage<br />

ist gewaltig. „Wir sind oft ausgebucht“,<br />

sagt er. Die Neugierde auf die Natur<br />

und die Beschäftigung mit ihr –sie ist<br />

gewachsen in den vergangenen Jahren.<br />

Das passt zum Trend der Zeit, bei dem es<br />

immer mehr Menschen darum geht, bewusster<br />

zu leben, im Einklang mit der Natur.<br />

Essen ist dabei fast zu einer Religion<br />

avanciert. Und immer mehr Menschen<br />

sehnen sich danach, sich selbst zu versorgen<br />

und hauptsächlich Regionales zu verzehren.<br />

Die Lebensmittelskandale um<br />

Obacht vor der<br />

Zypressen-Wolfsmilch –<br />

ihr milchartiger Pflanzensaft<br />

ist sehr giftig.<br />

Der vitaminreiche<br />

Sauerampfer schmeckt<br />

besondersgut in Suppe<br />

oder als Alternative zu<br />

Spinat.<br />

Waswächst<br />

auf Wald und Wiesen?<br />

Wildkräuter sind eine vergessene Nahrungsquelle, dabei<br />

sind sie gesund und kosten nichts –wennman sie selbst pflückt.<br />

Unterwegs mit dem Biologen Manuel Larbig, der weiß,<br />

was im Wald Unkraut ist und was nicht<br />

VonAnne-Kattrin Palmer<br />

Manuel Larbig pflückt einen gesunden Mix: Brennnessel, weiße Taubnessel, Gundermann, Giersch<br />

und Glaskraut. VOLKMAR OTTO (5)<br />

verseuchtes Fleisch oder genmanipulierten<br />

Mais haben dazu beigetragen, genauso<br />

wie ungesunde Zusätze inFertignahrung.<br />

Oder das Übermaß an Zucker.<br />

Das Institut für Demoskopie Allensbach<br />

ermittelte: 2012 wollten mehr als 36<br />

Millionen Menschen in Deutschland am<br />

liebsten autark leben. Und viele sind bereit,<br />

eine Menge Geld für ein von Schadstoffen<br />

befreites Leben auszugeben. Manuel<br />

Larbig nickt. „Dabei blühen beispielsweise<br />

Wildkräuter umsonst und draußen“,<br />

sagt er.Und zwar fast das ganzeJahr.<br />

Undwie ist seine Erfahrung mit dem Zurück-zur-Natur-Trend?<br />

„Er ist auf jeden Fall<br />

da –vor allem bei Städtern. Doch auch auf<br />

dem Land haben inzwischen viele den Kontakt<br />

zur Natur verloren“, sagt er. Das zeige<br />

Angenehm würzig<br />

verfeinertdie<br />

KnoblauchsraukeJoghurt<br />

oder Salat.<br />

Die Blätter<br />

des Gundermanns<br />

ergeben in flüssige<br />

Schokolade getunkt ein<br />

leckeres Dessert.<br />

sich unter anderem daran, dass auch Kinder<br />

auf dem Land oft gar nicht mehr draußen<br />

spielen würden.<br />

Dass viele nicht mehr wüssten, dass beispielsweise<br />

die Brennnessel wirklich brennt,<br />

wenn man sie anfasst, aber nicht mehr,wenn<br />

man sie dünstet. Und dass es viele Schätze<br />

gibt, die man einfach so sammeln kann.<br />

Wenn man sich auskennt.<br />

Wir sind bereits eine Stunde unterwegs.<br />

Die Zeit vergeht wie im Flug. Es ist ein bisschen<br />

wie bei einer Schnitzeljagd. Wir gehen<br />

voneinem Gebüsch zum nächsten, schieben<br />

Zweige und Gestrüpp zur Seite,durchforsten<br />

Wiesen und den Wegesrand.<br />

WIR SIND JÄGER UND SAMMLER, achten auf<br />

Zecken und Bienen, damit sie nicht beißen<br />

und stechen. Die Kräuter wandern in<br />

einen Jutesack, den man anfeuchten<br />

muss, damit die wilden Kräuter nicht verwelken.<br />

In ein feuchtes Tuch gewickelt,<br />

halten sie sich auch zwei Tage lang im<br />

Kühlschrank, erfahren wir.<br />

Für Tees kann man die Kräuter selbstverständlich<br />

auch verwenden. Wie die<br />

Lindenblüten, die Larbig uns jetzt zeigt.<br />

Bis August blüht die Sommerlinde, trocknet<br />

man ihre Blüten, ergibt das einen<br />

schweißtreibenden Tee, dessen Wirksamkeit<br />

bereits im Mittelalter bekannt war.<br />

Lindenblüte hilft bei Fieber wie überhaupt<br />

bei Erkältung. Heute findet man die<br />

Blüten in Apotheken und Reformhäusern<br />

und muss für ein kleines Päckchen Blüten<br />

bis zu sechs Euro berappen.„ImWald hängen<br />

sie kostenlos“, sagt Michael Larbig<br />

und grinst.<br />

Wir packen also ein paar Lindenblüten<br />

ein. Richtig satt ist die Ausbeute allerdings<br />

nicht mehr, essieht aus, als sei schon jemand<br />

vor uns da gewesen, nur noch vereinzelt<br />

hängen Blüten an den Blättern.<br />

Manuel Larbig weist nun auf ein grünes<br />

Gewächs mit weißen Blüten am Wegesrand.<br />

„Was ist das?“, fragt er, wie in der<br />

Schule. Wir nähern uns artig und raten:<br />

„Bärlauch?“ Manuel Larbig schüttelt den<br />

Kopf. „Es ist zwar die richtige Zeit für Bärlauch,<br />

aber es sind Maiglöckchen.“ Und<br />

die seien im Gegensatz zum Bärlauch giftig,<br />

genau wie die Blätter der Herbstzeitlosen.<br />

„Oft wachsen Bärlauch und Maiglöckchen<br />

nebeneinander, das kann gefährlich<br />

werden“, erklärt Larbig, deshalb<br />

sei es wichtig, sie unterscheiden zu können.<br />

„Bärlauch hat einen dreikantigen<br />

Blattstil, Maiglöckchen einen runden.“<br />

Zudem sei die Blattunterseite matt, bei<br />

Maiglöckchen und Herbstzeitlosen sei sie<br />

glänzend.<br />

Larbig steuert jetzt auf eine Pflanze mit<br />

gelben Blüten zu, zwackt einen Stängel ab,<br />

Milch läuft raus. „Das ist eine Zypressen-<br />

Wolfsmilch. Sie sieht hübsch aus, ist aber<br />

ebenso giftig.“ So wie fast alle Pflanzen<br />

mit Milchsaft –ausgenommender Löwenzahn.<br />

DER LÖWENZAHN – DEN KENNT MAN.<br />

Oder die Brennnessel. Als Kinder bekamen<br />

wir immer mit auf den Weg: Finger<br />

weg, da machen die Hunde drauf. Oder<br />

die Mär vom Fuchsbandwurm. Einmal an<br />

eine Pflanze gegriffen und man sei infiziert.<br />

„Das ist längst widerlegt“, sagt Larbig.<br />

„Er ist nur gefährlich, wenn man ihn<br />

einatmet, einem Sammler schadet er<br />

nicht.“<br />

Larbig zeigt uns Giersch, Gundermann<br />

und wilden Rucola, der überall in der<br />

Stadt sprießt und für den man im Supermarkt<br />

viel Geld bezahlt. Oder Rapunzel,<br />

der wilde Feldsalat. All das wächst vor unserer<br />

Haustür.<br />

Nach drei Stunden endet die Tour –und<br />

abends gibt es Salat.<br />

Infos und Führungen unter: wildkräuterevents-berlin.de<br />

oder waldsamkeit.de<br />

Anne-Kattrin Palmer<br />

schaut nun ganz oft nach Löwenzahn,<br />

Brennnessel und Co.<br />

Sabine Kroh ...<br />

... ist Jahrgang 1969, stammtaus Dresden und<br />

hat mehr als 25 Jahre Berufserfahrung als freie<br />

und festangestellte Hebamme. Sie arbeiteteals<br />

Hebamme nicht nur in Deutschland, sondern<br />

auch in Mexiko, Guatemala, England undTanzania.<br />

2016 gründete sie das Online-Portal call a<br />

midwife, dasFrauen zu allen Fragen rund um<br />

Schwangerschaft und Geburtberät. Sie ist Mutter<br />

einer erwachsenenTochter.<br />

Wie und unter welchen Umständen<br />

man geboren wird, kann man selbst<br />

nicht kontrollieren. Und wie man stirbt in<br />

den meisten Fällen auch nicht. Während<br />

fast alle unserer Lebensbereiche heute<br />

kontrolliert und durchorganisiert sind,<br />

entziehen sich die beiden existenziellsten<br />

Ereignisse in unserem Leben weitgehend<br />

der Kontrolle.<br />

Um genau diese Ereignisse soll es in einer<br />

neuen Kolumne gehen, die ab nächster<br />

Woche an dieser Stelle stehen wird. Sie<br />

heißt „Leben &Sterben“, und sie wird abwechselnd<br />

von zwei Menschen geschrieben,<br />

die sich beruflich damit befassen:<br />

von der Hebamme Sabine Kroh und dem<br />

Bestatter Eric Wrede.<br />

Sie werden von ihrer Arbeit berichten<br />

und von ihrer Beziehung zu Geburt und<br />

Tod, dem Beginn und dem Ende des Seins,<br />

in welches man ebenso unfreiwillig hineingerät,<br />

wie man es –zumindest in der<br />

Regel – wieder verlässt. Wenn jemand<br />

stirbt, zählt nicht mehr, was er war, wie<br />

viel Geld er verdient hat, er ist am Ende<br />

LEBEN &STERBEN<br />

VonSabine Kroh und Eric Wrede<br />

Wirmüssen reden<br />

seines Lebens wieder ein weißes Blatt<br />

Papier, wie bei der Geburt.<br />

Geburt und Tod sind extrem intime<br />

und gleichzeitig ganz alltägliche Begebenheiten:<br />

Sie machen die Angehörigen betroffen,<br />

man wird verletzlich, manch<br />

einen kann die Geburt seines Kindes in<br />

eine tiefe Krise stürzen, manch einer<br />

erlebt den Todder Mutter, des Vaters nach<br />

langem Leiden als Befreiung. Wie geht<br />

man damit um? Dies soll hier besprochen<br />

werden.<br />

Denn niemand, sagt der Bestatter Eric<br />

Wrede, habe uns beigebracht, über den<br />

Tod zureden: „Wir vermeiden es, woes<br />

nur geht.“<br />

Auch eine Geburt ist noch immer und<br />

für alle Beteiligten eine Grenzerfahrung.<br />

Und der Hebamme Sabine Kroh wird immer<br />

wieder bewusst, „wie wenig wir vorbereitet<br />

sind für diese Situation“.<br />

Es gibt also jede Menge Nachholbedarf<br />

beim Thema „Leben &Sterben“. Wir müssenreden.<br />

NächsteWoche geht es damit los.<br />

Eric Wrede ...<br />

... wurde 1980 in Rostock geboren, studierte<br />

Gemanistik und Geschichte und arbeitete danach<br />

als Musikmanager.ImFrühjahr 2013<br />

schmiss er seinen Jobhin und entschloss sich<br />

Bestatter zu werden, „um etwas zu ändernan<br />

der gängigen Trauerkultur“. 2014 gründete er in<br />

Berlin sein eigenes Unternehmen lebensnah-<br />

Bestattungen. 2018 veröffentlichte er das<br />

Buch „The End: Das Buch vomTod“.

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