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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 243 · 1 9./20. Oktober 2019 11 *<br />
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Berlin<br />
Neben der sanierten<br />
Gründerzeitfassade der<br />
ehemaligen Einkaufspassage<br />
sollen Wohnbauten<br />
und Geschäftshäuser<br />
entstehen.<br />
SCHNELLER KALT ALS DEIN ESSEN<br />
VOM LIEFERDIENST.<br />
Jetzt von Berlin zum Wintersport nach Graz oder Salzburg.<br />
zept, „aber ich habe es inhaltlich<br />
nicht zu beurteilen“, sagt er. Für ihn<br />
sind die quantitativen Festlegungen<br />
entscheidender – zum Beispiel die<br />
Frage, ob Restaurantfläche und<br />
Buchladen tatsächlich untergeordnet<br />
sind, wie es vorgesehen ist. „Eine Aufteilung<br />
von 60:40 sollte es schon<br />
sein“, sagt Gothe, außerdem wisse er<br />
von Plänen über Fotostudios bei Fotografiska.<br />
Prinzipiell hält es Gothe jedenfalls<br />
„für nicht verwerflich, dass man mit<br />
dem Konzept in die Breite geht“, wie<br />
er es formuliert, dass auch Geld verdient<br />
wird. Darum sei es auch denkbar,die<br />
Galerie bis in die Abendstunden<br />
zu öffnen, das Restaurant könnte<br />
anschließend noch länger geöffnet<br />
sein, sagt der Kommunalpolitiker.<br />
Wichtiger ist für Gothe ohnehin,<br />
dass die Ruine sachgerecht renoviert<br />
wird. Da seien noch Absprachen nötig,<br />
schließlich müssten manche<br />
Graffiti konserviert werden. Und vor<br />
allem gelte: „Jedes Nutzungskonzept<br />
muss sich in das Haus einfügen.“<br />
Ob solch ein Konzept voller kulturpolitischer<br />
Kompromisse jemanden<br />
wie Jochen Sandig überzeugen<br />
könnte,ist unwahrscheinlich. Sandig<br />
gehört zuden Besetzern der ersten<br />
Stunde.Der Regisseur und Kulturmanager<br />
gilt sogar als Erfinder des Namens<br />
Tacheles – Klartext also. Damals,<br />
zur Wendezeit, wollten die<br />
Initiatoren auf die mangelnde Meinungsfreiheit<br />
in der DDR verweisen.<br />
Mit der Zeit ging der Name der<br />
Gruppe auf das Gebäude selbst über.<br />
Sandig blieb bis 1994 im Tacheles,<br />
wo er auch seine spätere Frau, die<br />
Choreographin Sascha Waltz, kennenlernte.<br />
Sandig zog später weiter<br />
zu den Sophiensälen ganz in der<br />
Nähe, ehe beide zusammen an die<br />
Schaubühne am Lehniner Platz gingen.<br />
Spätestens mit der Gründung<br />
des Radialsystems an der Spree in<br />
Friedrichshain war der gebürtige<br />
Schwabe Sandig ein großer Name im<br />
<strong>Berliner</strong> Kulturbetrieb. Doch ein gewisser<br />
Hang ins Südwestdeutsche ist<br />
Sandig geblieben: Am 1. Oktober diesen<br />
Jahres hat er sein Amt als Intendant<br />
der Ludwigsburger Schlossfestspiele<br />
angetreten.<br />
Das Tacheles jedoch hat Sandig<br />
nie aus dem Blick verloren. Er habe<br />
sich über den jahrelangen Stillstand<br />
auf der Brache nach der Schließung<br />
geärgert, sagt Sandig der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>.<br />
Entsprechend freute er sich auf<br />
die Grundsteinlegung im September.<br />
In einer ArtAkt der Piraterie hüpfte er<br />
auf die Bühne und stopfte Karten mit<br />
den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung<br />
der Vereinten Nationen in<br />
die Grundsteindose.<br />
Sandig hat das Tacheles nämlich<br />
noch lange nicht aufgeben. Das Besetzermotto<br />
von 1990 soll sich in seinen<br />
Augen als geradezu visionär erweisen:<br />
„Die Ideale sind ruiniert, rettet<br />
die Ruine!“<br />
Jochen Sandigs Vision ist ein „Tacheles<br />
for Future“. Er will die mit Millionensummen<br />
handelnden Investo-<br />
How long is now? Rund um<br />
die stellenweise schwer<br />
heruntergekommene und<br />
mit Graffiti übersäte Ruine<br />
an der Oranienburger<br />
Straße drehen sich<br />
die Baukräne.<br />
THOMES UHLEMANN (2); DPA (2) AM TACHELES (3)<br />
ren dazu kriegen, nachhaltig zu denken<br />
und zu handeln, wie er sagt.<br />
Wenn sie schon mit dem Namen Tacheles<br />
Geld verdienen wollten, sollten<br />
die Manager erkennen, dass Gewinnmaximierung<br />
an diesem Ort<br />
eben nicht das richtige Konzept sein<br />
könne.<br />
Generation Greta<br />
„Das Tacheles war über zwei Jahrzehnte<br />
ein Ort der gesellschaftlichen<br />
Auseinandersetzung“, sagt Sandig,<br />
„das soll es jetzt wieder werden.“ Der<br />
51-Jährige möchte, dass der Investor<br />
das Tacheles aus dem Neubauviertel<br />
ausklammert und einer Stiftung<br />
übergibt. Diesewiederum müsste die<br />
Räume der „Generation Greta“ zur<br />
Verfügung stellen, wie Sandig es<br />
nennt. Diese gelte es unbedingt und<br />
unentgeltlich zu unterstützen.<br />
Schließlich wollten die Aktivisten von<br />
„Fridays for Future“ die Welt retten.<br />
Eine relevantere Aufgabe könne es<br />
nicht geben. Die Analogie zu 1990<br />
liege auf der Hand: „Man hat unsdamals<br />
auch in Ruhe gelassen.“<br />
Natürlich müssten die Investoren<br />
fürdie Übergabe an eine Stiftung auf<br />
Gewinn verzichten, so Sandig.Aberer<br />
habe gute Signale gehört. So habe<br />
pwr-Manager Klatt bei der Grundsteinlegung<br />
gesagt, man wolle am Tacheles<br />
selbst kein Geld verdienen.<br />
Anders als Sandig hat Klaus Ledererdie<br />
Hoffnung auf einen Ortfür relevante<br />
Kultur an der Oranienburger<br />
Straße aufgegeben. „Der Mythos des<br />
Tacheles ist vorbei. Der Verkauf war<br />
ein Fehler. Jetzt wollen die privaten<br />
Eigentümer aus dem vergangenen<br />
Mythos Kapital schlagen“, sagt der<br />
Linke-Politiker. Deshalb seien auch<br />
alleVersuche der Politik, dortöffentliche<br />
Kulturnutzung einzubringen,<br />
komplett fehlgeschlagen. „Wir haben<br />
mit dem Besitzer verhandelt, um<br />
Räume für Kunst zu sichern. Wirhätten<br />
auch versucht zu kaufen. Dafür<br />
gab es keine Bereitschaft. Beiden von<br />
den Eigentümern aufgerufenen Preisen<br />
war uns auch das Mieten nicht<br />
möglich“, erinnertLederer.<br />
Auch Stadtrat Ephraim Gothe erkennt<br />
nur noch „eine wehmütige Erinnerung<br />
an die 90er-Jahre“. Aber er<br />
will nicht so schwarzsehen wieLederer.<br />
Er erinnertandie Alte Münzeam<br />
Molkenmarkt, der sich unter der<br />
Ägide der Senatskulturverwaltung<br />
entwickelt hat und für die aktuell eine<br />
musikalische Nutzung gesucht<br />
werde.<br />
Auch das Haus der Statistik am<br />
Alexanderplatz, ein zur Ruine verkommener<br />
Bürokomplex aus DDR-<br />
Zeiten, sei so ein Ortder Hoffnung, so<br />
Gothe.<br />
Parallel zur Sanierung entwickelt<br />
sich dortein gemeinwohlorientiertes<br />
soziokulturelles Zentrum.<br />
Elmar Schütze<br />
verfolgt die Geschichte des<br />
Tacheles seit Jahren.