17.11.2019 Aufrufe

Berliner Zeitung 16.11.2019

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

8 16./17. NOVEMBER 2019<br />

KINDERSACHBUCH<br />

VonCornelia Geißler<br />

DEUTSCHPOP<br />

VonDagmar Leischow<br />

Entschlüsselte Botschaften<br />

Die Kunst des erzählenden Zeichnens hat<br />

sich so entwickelt, dass Comics längst kein<br />

Kinderkram mehr sind, sondernauchWeltliteratur<br />

in Graphic Novels übersetzt wird. Der<br />

in der Ukraine geborene, inDeutschland lebende<br />

Künstler Vitali Konstantinov verwandelt<br />

zum Beispiel E. T. A. Hoffmanns und<br />

Dostojewskis Sprache in Bilder. Für sein<br />

neues Werk nutzt er seine Neugier,sein grafisches<br />

Geschick und seine Erfahrung als Erzähler,<br />

umein klassisches Sachbuchthema<br />

mit nur kurzenTexten und unendlich vielen<br />

Beispielen überzeugend darzustellen. „Es<br />

steht geschrieben“ folgt der Entwicklung der<br />

Schrift, die ja nicht nur chronologisch verlaufen<br />

ist, sondernanunterschiedlichen Orten<br />

auf sehr verschiedene Weise parallel. Er<br />

bringt Schriftschöpfer und -leser zusammen,<br />

Missionare und Gelehrte, zeigt also Figuren,<br />

Schriftmedien (Stein, Ton, Papyros,<br />

Papier) und -gestalt. Konstantinov dokumentiert,<br />

wie Zeichen und Laut zusammenhängen,<br />

ob es nun im lateinischen Alphabet<br />

(einem„Exportschlager“), der Khmer-Schrift<br />

oder bei afrikanischen Sprachen ist. Er übersetzt<br />

Logogramme und Glyphen. In den kurzenTexten<br />

erzählt er stets Kulturgeschichte<br />

mit, und nebenbei<br />

erlaubt er sich noch Witze.<br />

Jede, wirklich jede Seite<br />

lädt zum Vertiefen ein.<br />

Vitali Konstantinov:<br />

Es steht geschrieben<br />

Vonder Keilschrift zum Emoji.<br />

Gerstenberg, Hildesheim 2019.<br />

72 S.,25Euro.<br />

Ab 10 J.<br />

Berechenbarer Rhythmus<br />

Auf vielerlei Weise feiert„Das Buch der Zeit“<br />

sein Thema. Um die Zeitrechnungen zu erklären,<br />

führt eszuden Planeten, dann einmal<br />

um den Globus herum und in die Vergangenheit.<br />

Zeitreisemodelle lassen sogar in<br />

die Zukunft blicken. Kathrin Köller schreibt<br />

in einem munteren, die Leser ansprechenden<br />

Ton, führt zunächst grob zu einem Aspekt<br />

hin und fächert ihn dann in kleineren<br />

Texten auf. Siegeht dabei gernvon Erfahrungen<br />

aus, die sie benennt: Etwa das Zeitparadoxon,<br />

das einem das Zimmer-Aufräumen<br />

ewig lang und den Nachmittag mit Freunden<br />

kurzerscheinen lässt. Für das Generationenmodel<br />

nutzt sie einen konkreten Familien-<br />

Stammbaum. Sie verbindet nützliches und<br />

unnützes (aber unterhaltsames) Wissen. Die<br />

Illustratorin Irmela Schautz macht den<br />

Mondkalender hübsch, hilft die Relativitätstheorie<br />

zu verdeutlichen, zeigt die Funktionsweise<br />

der Pendel- oder Elefantenuhr.<br />

Oder sie stößt weitere Gedanken an. So verweist<br />

sie,wenn es um die Arbeitswelt und derenRhythmus<br />

im Industriezeitalter geht, mit<br />

einem Bild vonCharlie Chaplin auf seine Parodie<br />

der Stechuhren im Film „Moderne Zeiten“.<br />

Dieses Sachbuch ist klug<br />

strukturiert: Man kann den<br />

Komplexen chronologisch<br />

folgen, wird aber auch<br />

beim Hin- und Herspringen<br />

gut informiert.<br />

Kathrin Köller/Irmela Schautz:<br />

DasBuch der Zeit<br />

Prestel, München 2019.<br />

104S., 25 Euro.<br />

Ab 9J.<br />

„Als Mutter lernt man, wasesbedeutet, zugleich Märtyrer und Teufel zu sein.“ Einer von Rachel Cusks bestechend klugen Sätzen.<br />

Eine extreme Erfahrung<br />

Rachel Cusks Buch über das „Mutterwerden“ liegt endlich auch in deutscher Sprache vor<br />

Ein Kind auszutragen, zu gebären<br />

und zu versorgen, ist eine Zumutung.<br />

So ungefähr ließe sich der autobiografische<br />

Roman „A Life’s<br />

Work“ von Rachel Cusk zusammenfassen,<br />

der 2001 in England erschien und nun endlich<br />

auch auf Deutsch zu lesen ist. Cusk, inzwischen<br />

eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen<br />

Englands, beschreibt in ihrem<br />

„Lebenswerk“, wie sie selbst zur Mutter wird.<br />

Sachlich, genau, manchmal fast kühl widmet<br />

sie sich dem eigentlich unglaublichen Vorgang,<br />

dass in einem Körper ein anderer<br />

wächst, sich unter Schmerzen von ihm<br />

trennt, um ganz allmählich zu einer eigenständigen<br />

Person zu werden.<br />

Hin und wieder zitiert sie Texte, die ihr<br />

hilfreich erscheinen; allein wegen ihrer Gedanken<br />

zu Samuel Coleridge,Adrienne Rich,<br />

Charlotte Brontë lohnt sich die Lektüre. Vor<br />

allem aber beschreibt sie, was mit ihr passiert<br />

–während der Schwangerschaft, beim<br />

Stillen, im Spielkreis,angesichts des verwaisten<br />

Schreibtischs, voller Widerwillen, wilder<br />

Aggressionen und heftiger Liebe für das<br />

Kind. Sie trifft andere Mütter,Väter, medizinisches<br />

Fachpersonal und Babysitter, denkt<br />

über Beikost und Hygiene nach, irrtmit kreischendem<br />

Säugling durch London, dreht vor<br />

Schlafmangel fast durch.<br />

Nicht nur für Menschen, die das selbst erlebten,<br />

ist es befreiend, das Leben mit Baby<br />

einmal nicht in intellektuell unterbelichteter<br />

Ratgeberprosa, sondern ineinem scharfsinnigen<br />

und ehrlichen Text behandelt zu sehen.<br />

Anstatt Widersprüchliches und Schweres<br />

anMutterliebe oder Natürlichkeit zu delegieren,<br />

untersucht er die Grenzen, die der<br />

enge Kontakt mit dem neuen Leben unweigerlich<br />

aufreißt: Es geht um Verantwortung<br />

und Ich-Auflösung, extreme Nähe und Befremden,<br />

tödliche Langeweile und Entzücken,<br />

Zuwendung und Zorn: „Als Mutter<br />

lernt man, was es bedeutet, zugleich Märtyrer<br />

und Teufel zu sein. In der Mutterschaft<br />

VonSabine Rohlf<br />

Rachel Cusk: Lebenswerk. Über das Mutterwerden.<br />

Ausdem Englischen vonEva Bonné.<br />

Suhrkamp, Berlin 2019, 223 S.,22Euro<br />

habe ich mich als rechtschaffener und<br />

schrecklicher erlebt, als so einbezogen in die<br />

Wunder und Schrecken dieser Welt, wie ich<br />

es aus der Anonymität der Kinderlosigkeit<br />

heraus nie für möglich gehalten hätte.“<br />

Das „Mutterwerden“ ist in diesem Buch<br />

eine extreme Erfahrung. In England sorgte<br />

das für einen Aufschrei, manche Kritiken<br />

warnten Schwangerevor der Lektüre, andere<br />

mutmaßten, Cusk hasse ihr Baby. Dabei ist<br />

dies einer der ganz wenigen Texte, die nicht<br />

nur Mütter und andereEltern, sondernauch<br />

das Kind in seiner rätselhaften Unfertigkeit<br />

ernst nehmen.<br />

Rachel Cusk wurde mit ihrer Trilogie über<br />

eine Schriftstellerin, die als ihr Alter Egoaufzufassen<br />

ist, international bekannt. Diese<br />

Frauenfigur bleibt stets ungreifbar, jabildet<br />

eine clever konzipierte Leerstelle im Geplapper<br />

des Literaturbetriebs.Ihr Buch über Mut-<br />

GETTY/SOLSTOCK<br />

terschaft ist konkret, schonungslos und intim,<br />

erzählt ohne Sicherheitsabstand und<br />

wurde genau dafür abgestraft. Inzwischen<br />

haben sich –nicht zuletzt wegen Cusks eigener<br />

Arbeit, aber auch wegen der von Kollegen<br />

wie Karl Ove Knausgård oder Annie Ernaux<br />

–die Grenzen zwischen Autobiografie<br />

und Fiktion gelockert und das Publikum ist<br />

hoffentlich bereiter,den Text als das zu lesen,<br />

was er ist: ein radikal aufrichtiges,kluges,bestechend<br />

gut geschriebenes Stück Literatur.<br />

Der Suhrkamp-Verlag bezeichnet es sicher<br />

nicht zufällig als „Roman“. Bei Wikipedia<br />

steht „A Life’s Work“ noch unter der Überschrift<br />

„Sachbuch“.<br />

So oder so zeigt dieses Buch, dass sich in<br />

traditionell weiblichen, gern als trivial oder<br />

kunstfern apostrophierten Sphären existenzielle<br />

Dinge tun: Der Beginn eines Lebens<br />

spielt sich nun einmal zwischen Windeleimer<br />

und Küchentisch ab,die eine Hauptfigur<br />

dieses Geschehens muss auf sehr viel<br />

verzichten (Beruf, Freizeit, Selbstbestimmung)<br />

und trägt meist milchdurchtränkte<br />

Still-BHs.Die anderewar langeTeil ihres Körpers,<br />

trinkt, verdaut und ringt damit, überhaupt<br />

erst ein Selbst zu entwickeln. Dasalles<br />

ist von Geschrei und viel zu kurzem Schlaf<br />

unterbrochen, funktioniert ganz anders als<br />

die übliche Erwachsenenwelt. Rachel Cusk<br />

fragt, was es der Frau abverlangt, die eine Erwachsene<br />

mit eigenen Bedürfnissen war<br />

oder ist.<br />

Dieses sehr persönliche Buch bildet allerdings<br />

Cusks privateWirklichkeit nicht eins zu<br />

eins ab.„Stattdessen habe ich bestimmte Aspekte<br />

meines Lebens wie eine Leinwand benutzt,<br />

auf der ich mein Thema, die Mutterschaft,<br />

anschaulich machen kann.“ Sieselbst<br />

hat nicht ein Kind wie das „ich“ im Buch,<br />

sondern bekam in recht kurzem Abstand<br />

zwei. Undsie konnte als erneut Schwangere<br />

und später als Mutter zweier Töchter nur<br />

schreiben, das erzählt sie imVorwort, weil ihr<br />

Mann die Kinderbetreuung übernahm.<br />

Eingängige Empfindungen<br />

Wer mit Phrasen wie „Die Jugend ist die<br />

schönste Zeit des Lebens“ um sich schlägt,<br />

der mag sich wohl nicht mehr an die eigene<br />

Pubertät erinnern. Das Gedächtnis der Silbermond-Sängerin<br />

Stefanie Kloß funktioniertdabesser:Selbstzweifel<br />

und Tränen gehörten<br />

für sie in dieser Lebensphase dazu.<br />

„Ganz ehrlich/ Ich will nicht noch mal 14<br />

sein/ Instagram-Wahn, Schönheitshype“,<br />

bilanziertsie in„Für Amy“, einem Mutmachlied<br />

für einen weiblichen FanimTeenageralter.<br />

Nicht nur dieser Titel liefert den Beweis<br />

dafür, dass Silbermond mit ihrem sechsten<br />

Album „Schritte“ künstlerisch ein gutes<br />

Stück gereift sind: DieBand aus Bautzen hat<br />

ihre Musik deutlich abgespeckt. Folkige Singer-Songwriter-Klänge<br />

haben den altvertrauten<br />

Powerpop weitgehend abgelöst. Berührend<br />

ist auch die Ballade „Inmeiner Erinnerung“,<br />

in der Stefanie Kloß erneut den Tod<br />

ihres Vaters aufarbeitet. Als er starb, war sie<br />

erst 18. Heute,mit Mitte 30, hat sie selber ein<br />

Kind. DasMuttersein reflektiertsie in der getragenen<br />

Nummer „Hand aufs Herz“. Diese<br />

Mischung aus Empfindung und Eingängigkeit<br />

packt die Hörer, einfach weil sie ihnen<br />

das Gefühl gibt, dass Musik am Ende alle<br />

Wunden heilt. So füllen Silbermond immer<br />

noch große Hallen, während andere<br />

Deutschpop-Bands<br />

wie Juli nichts Bemerkenswertes<br />

mehr von sich geben.<br />

Fluffiger Chillout<br />

Silbermond:<br />

Schritte<br />

Sony<br />

Unabhängig von der Qualität ihres Outputs<br />

muss man Milky Chance zugestehen, dass<br />

das Duo aus Kassel überaus erfolgreich ist.<br />

Unddas nicht bloß in Deutschland, sondern<br />

auf der ganzen Welt. In mehreren Ländern<br />

gab es Gold- oder sogar Platinauszeichnungen.<br />

Deshalb halten die beiden Schulfreunde<br />

Philipp Dausch und Clemens Rehbein auch<br />

auf ihrem dritten Album an Altbewährtem<br />

fest: Fluffige Chillout-Popsongs,die dank ihres<br />

hohen Wohlfühlfaktors für Spa-Besuche<br />

ebenso die passenden Klänge liefern wie für<br />

eine Cabriofahrt. Eine Nummer wie „Fallen“<br />

macht sich auch auf dem Dancefloor ziemlich<br />

gut. Meistens schiebt ein Housebeat Clemens<br />

Rehbeins Gesang an, mal ergänzen HipHop-Elemente<br />

die recht vorhersehbare<br />

Sound-Spielwiese, mal ein bisschen Reggae.<br />

Weitere Impulse kommen von verschiedenen<br />

Gästen. MitTémé Tanschaut bei „Rush“<br />

ein belgischer Sänger mit kongolesischen<br />

Wurzeln vorbei. Der südafrikanische Chor<br />

Ladysmith Black Mambazo steuert seinen<br />

Gesang bei einem gospeligen Stück namens<br />

„Eden's House“ bei. Immerhin sticht dieser<br />

Titel aus dem ansonsten nicht sehr abwechslungsreichen<br />

Songwriting heraus.Man hätte<br />

sich für die meisten Lieder eine spannungsgeladenere<br />

Dramaturgie gewünscht. Milky-<br />

Chance-Fans haben<br />

an dieser Platte<br />

sicher ihre Freude,<br />

andere Hörer langweilen<br />

sich eher.<br />

MilkyChance:<br />

Mind the Moon<br />

Universal<br />

OL

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!