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10 16./17. NOVEMBER 2019<br />
Nicht ohne meine Ohrringe: 1964 erklärte Meret<br />
Oppenheim das Röntgenbild ihres Schädels zum<br />
Kunstobjekt. GAL.A. LEVY/CH/VG BILDKUNST 2019<br />
Die Künstlerin als Indigene: Meret Oppenheim mit<br />
kunstvoller „Maori-Tätowierung“ und fedrigen<br />
FächernamOhr. GAL. A.LEVY/CH/VG BILDKUNST 2019<br />
Mädchenhaft staunender,magischer Surrealismus: „Die Waldfrau“ von 1939, stilistisch nahe an Max Ernst. GAL. LEVY/CH/VG BILDKUNST 2019<br />
Abtrünnige wurden von den Surrealisten<br />
tunlichst ignoriert. Nicht so<br />
MeretOppenheim. DiePariser Surrealisten<br />
um André Breton hätten<br />
sie gerne als eine der ihren gesehen. Aber<br />
MeretOppenheim, geboren 1913 in Berlin als<br />
Tochter eines jüdischen Arztes, hat zwar einige<br />
Jahre mit der die Herrschaft der Logik<br />
und des Rationalen bekämpfenden, auf das<br />
Unterbewusste und Übersinnliche setzenden<br />
Szene verbracht; was wohl auch an ihrer Liaison<br />
mit Max Ernst lag. In den 30er-Jahren<br />
machte sie bei einigen Ausstellungen der Surrealisten<br />
mit.<br />
Sie hatte jedoch ihren eigenen Kopf und<br />
hielt sich nicht an den irrationalen Kodex der<br />
verschworenen Truppe.Die exzentrische Oppenheim<br />
wollte weder als Surrealistin noch<br />
als Objektkünstlerin wahrgenommen werden,<br />
auch keineswegs als männerwechselnde<br />
Feministin, sondernals eigenständige Künstlerpersönlichkeit.<br />
Undzwar gegen alle Regeln<br />
der Vernunft. Sie liebte Experimente mit den<br />
unmöglichsten, auch banalsten Materialien,<br />
und sie liebte Maskeraden.<br />
Der<strong>Berliner</strong> Galerist Alexander Levy,Sohn<br />
des Hamburger Kunsthändlers Thomas Levy,<br />
der in den 70er-Jahren zeitweiligerWegbegleiter<br />
der Oppenheim war, offeriert soeben mit<br />
Hilfe seines Vaters einen Querschnitt der<br />
Kunst dieser ungewöhnlichen Frau. Offenbar<br />
wird, wie sie das elitäre Prinzip der klassischen<br />
Surrealisten aushebelte,sich lustvoll im<br />
Supermarkt der Avantgarden bediente.<br />
Vater und Sohn Levy zeigen Oppenheims<br />
legendäres „X =Hase“, mit dem die damals<br />
17-Jährige in ihr Schulheft folgende Frage hineincollagierte:<br />
Wenn Mathe-Gleichungen<br />
Wurzeln hätten, wo würden denn dann die<br />
Hasen bleiben? Sieht ganz so aus, als hätte<br />
später ein anderer Hasenfreund, der Fluxus-<br />
Schamane Joseph Beuys, darauf auch Antwortgesucht.<br />
Undessind Arbeiten zu sehen,<br />
Gleichung<br />
mit Hasen<br />
Meret Oppenheim, die weibliche Irritation der legendären Pariser<br />
Surrealistenszene, bekommt in der <strong>Berliner</strong> Galerie Levy<br />
einen seltenen Auftritt<br />
VonIngeborg Ruthe<br />
„X = Hase“ oder „Das Schulheft“<br />
von 1930/Reminiszenz von 1973<br />
GAL. ALEXANDER LEVY/CH/VG BILDKUNST 2019<br />
Pelziges gibt es öfter in Meret Oppenheims Werk:<br />
„Eichhörnchen“, 1969 GAL. A.LEVY/CH/VG BILDKUNST 2019<br />
in denen sich das Unbewusste und Träumerische,<br />
Bizarre und Märchenhafte durchdringen.<br />
Das Reale und Abstrakte, das Geometrische<br />
und Biomorphe finden zueinander.<br />
Da sind Zeichnungen, in denen Oppenheim<br />
sich androgyn darstellt, wie eine Vorbotin<br />
der aktuellen Gender-Debatte.Inanderen<br />
Werken vertieft sie das Poetische oder verweist<br />
aufs Animalische der Natur. Pelziges war<br />
in den 60er-Jahren ihr Markenzeichen, zweifellos<br />
auch erotischer Stoff. Ihr „Eichhörnchen“<br />
steht auf dem Präsentiertisch bei Levy:<br />
ein Bierglas mit vertrocknetem Schaum und<br />
buschigem Schweif. Ganz ihrer obsessiven<br />
Neigung zum Abstrusen und Skurrilen entgegenkommend.<br />
Doch hat sie sich dagegen verwahrt,<br />
auf ihre Pelzobjekte als kuriose Pausensnacks<br />
reduziert zu werden. Ihre berühmte<br />
Felltasse, diezum Symbol des Surrealismus<br />
wurde, lässt das MoMA inNew York<br />
übrigens nicht mehr reisen.<br />
Alles bei Levy Ausgebreitete ist poetischironisch<br />
verschwistert, steht im eigenartigen<br />
Dialog mit der Natur, mit Fundstücken, die<br />
eine auratische Wirkung entfalten, aberwitzig,<br />
hintersinnig, erotisch und geistvoll. Und<br />
vor allem mit Liebe zum Handgemachten.<br />
Der Kunstbetrieb freilich fremdelte zu Oppenheims<br />
Lebzeiten –sie starb 1985 in Basel–<br />
mit ihrem Werk. Eswurde als Ausnahmeerscheinung<br />
wahrgenommen, so betont und<br />
provokant körperbewusst, so direkt und dabei<br />
so verschlüsselt.<br />
Wenn es stimmt, dass der Dadaismusaus<br />
dem Lachen und der Surrealismus aus dem<br />
Fieber gekommen sind, dann säße Meret<br />
Oppenheim mit ihrem vonder heutigen jungen<br />
Kunst so sehr belehnten Konzept von<br />
Kunst als Spiel zwischen beiden Extremen.<br />
Nun, der Platz dürfte ihr gefallen.<br />
GalerieAlexander Levy,Rudi-Dutschke-Straße 26,<br />
bis20. Dezember, Di–Sa 11–18 Uhr<br />
Leo<br />
Gutsch<br />
Ich gucke jetzt oft auf Youtube diese Handwerker-Videos.<br />
Wie man einen Beton-<br />
Couchtisch baut. Oder wie ein Wasserablauf<br />
in eine Terrasse eingelassen wird. Oder wie<br />
man am besten einen Wanddurchbruch<br />
plant. Mein derzeitiger Lieblingsfilm ist der,in<br />
dem ein rothaariger Australier einen beleuchtetenWhirlpool<br />
in seiner Küche errichtet.Wobei<br />
auch die anderthalbstündige Dokumentation<br />
eines brandenburgischen Freizeit-<br />
Maurers zur Komplexität des Kalkmörtel-<br />
Putzauftrages in feuchten Kellerräumen mir<br />
einige Freude und Erkenntnisse bescherthat.<br />
Wenn ich diese Filme sehe, vergesse ich<br />
Zeit und Raum. Große, entscheidende Fragen<br />
wie die nach der Körnungsgröße des<br />
Sandes im Kalkmörtel oder,noch viel wichtiger,<br />
die der Aushärtungszeit in Abhängigkeit<br />
von Luftfeuchtigkeit und Außentemperatur,<br />
sickerninmich ein wie weicher Frühlingsregen<br />
in ein frisch gegrubbertes Tulpenbeet.<br />
Diese Handwerker-Videos entspannen mich<br />
so tief, dass ich zuweilen Probleme habe,<br />
Drei Steine,<br />
ein Bier<br />
VonMaxim Leo<br />
mich nach stundenlanger Versenkung wieder<br />
aus meiner Mörtel-Meditation zu lösen.<br />
In dem Buch „Eine kurze Geschichte der<br />
Menschheit“ erklärt der israelische Historiker<br />
Yuval Noah Harari, wie der Mensch im<br />
Laufe seiner zivilisatorischen Entwicklung<br />
bestimmte Instinkte und Fähigkeiten verkümmernließ,<br />
weil er sie nicht mehr täglich<br />
benötigte.Esnutzt einem mittelalten Mann,<br />
der im Jahre2019 in einer westeuropäischen<br />
Hauptstadt lebt, nicht viel, grundsätzlich<br />
über die Fähigkeit zu verfügen, aus dem<br />
Dickdarm eines Säbelzahntigers einen Wasser-Vorratsschlauch<br />
zu basteln. Aber, so<br />
schreibt Harari, diese Fähigkeit ruht in uns,<br />
sie schlummert inunseren Muskelfasern, in<br />
den Außenarealen unserer Großhirnrinde.<br />
Sie wartet nur darauf, wieder abgerufen zu<br />
werden.<br />
So erkläre ich mir meine Sehnsucht nach<br />
einem erfüllten Handwerker-Leben. Irgendwann<br />
besaßen meine fernen Vorfahren vermutlich<br />
eine gewisse Kalkmörtel-Kompetenz,<br />
sie wussten, wie man einen Feldstein<br />
behaut und wie ein ordentlicher Fenstersturzgemauertwird.<br />
Dieses Wissen, das nun<br />
vernachlässigt und missachtet in meinen<br />
Gen-Ketten herumgeistert, löst bei mir diese<br />
Euphorie aus, sobald ich jemanden einen<br />
Ziegelstein in ein Mörtelbett legen sehe.<br />
Vor ein paar Wochen dachte ich: Ach<br />
komm, lebe deinen Traum! Aktiviere den<br />
Handwerker in dir!Verrichte deine erste Maurerarbeit!<br />
In unserem Garten gibt es einen alten<br />
Schuppen, auf dessen Wetterseite die<br />
Steine von Regen und Frost zerfressen sind.<br />
Ich trug die Mauer ab und begann anschließend,<br />
sie wieder neu zu errichten. Es war zufällig<br />
zweiWochen vordem großen Mauerfall-<br />
Jubiläum und meine Frau Catherine fragte,ob<br />
dieses Mauerbauen in uns Ostdeutschen irgendwie<br />
genetisch angelegt sei.<br />
Aber ich ließ mich nicht beirren, schichtete<br />
Steinauf Stein, lernte mitder Fugenkelle<br />
umzugehen, lernte die richtige Mörtelkonsistenz<br />
anzumischen, lernte die alte Maurer-<br />
Regel: drei Steine,ein Bier.Leider wusste ich<br />
noch nicht so richtig, wie man lotrecht in die<br />
Höhe arbeitet. Auch war mir nicht klar, dass<br />
ich im Nachhinein nichts mehr korrigieren<br />
kann, weil der Mörtel so schnell hart wird.<br />
Meine Mauer hatte dann den einen oder anderen<br />
Schwung. Undauch die eine oder andere<br />
Delle. Und auch die eine oder andere<br />
Stufe. ImGrunde war es am Ende eher eine<br />
Pyramide, was man aber auch erst mal hinbekommen<br />
muss.Ich meine, wiewurden die<br />
Ägypter gefeiert, als sie ihre erste Pyramide<br />
gebaut hatten. Und ich schüttelte das einfach<br />
so aus dem Handgelenk.<br />
Kurzum, als ich irgendwann fertig war,<br />
spürte ich einen großen Maurerstolz in mir.<br />
Ichhatte das Gefühl, etwas wirklich Bleibendes<br />
geschaffen zu haben.Wenn später meine<br />
Enkelkinder mal zufällig an der Wetterseite<br />
des Schuppens vorbeikommen, werden sie<br />
sagen: „Das war OpaMaxim, er konnte zwar<br />
nicht mauern, aber er hat es trotzdem getan.<br />
Weil es seine Bestimmung war.“