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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 268 · M ontag, 18. November 2019 – S eite 23<br />
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Feuilleton<br />
Ulrich Seidler über<br />
das Epos „Diamante“<br />
in den Festspielen<br />
Seite 24<br />
„Schreiben Sie uns, was immer Sie auf dem Herzen haben.“<br />
Mit diesen Worten forderte BBC-Moderator Austin Harrison DDR-Bürger zum Briefeschreiben auf Seite 25<br />
Social Media<br />
Ein grausamer<br />
Rechner<br />
Susanne Lenz<br />
freut sich, weil sie jetzt weiß,<br />
wie sie sich verändernkann<br />
Indieser Kolumne soll es um einen<br />
Rechner gehen, ja, und sie steht<br />
richtig hier im Feuilleton. Zunächst<br />
ein paar allgemeine Informationen:<br />
Der Soziologe Mateusz Mucha entwickelt<br />
zusammen mit zwei Kollegen<br />
Rechner für so ziemlich alle Lebenslagen,<br />
deshalb heißt ihr Projekt<br />
auch Omni Calculator und in der<br />
Unterzeile „Your life in 895 calculators“,<br />
also „Ihr Leben in 895 Rechnern“.<br />
Es gibt den Verlorene-Socken-Rechner,<br />
den Pokémon-Gewichtsverlust-Rechner<br />
oder den Pizzagrößen-Rechner.<br />
Hier soll es um<br />
den „Social-Media-Zeit-Alternativen-Rechner“<br />
gehen, der einem ausrechnet,<br />
was man alles tun könnte,<br />
würde man nicht so viel Zeit bei<br />
Twitter, Instagram oder Snapchat<br />
verplempern. Augenöffnend, sage<br />
ich Ihnen! Mankönnte ihn auch den<br />
„Grausamen Rechner“ nennen.<br />
Die Anwendung ist einfach. Zunächst<br />
muss man eingeben, wie oft<br />
am Tag man die sozialen Medien<br />
checkt und wie viel Zeit man damit<br />
dann jeweils verbringt. Ein Selbstversuch<br />
–und hier sollte man ehrlich<br />
mit sich sein –erbrachte Folgendes:<br />
Wenn ich den sozialen Medien fünf<br />
Mal amTag für jeweils 15 Minuten<br />
Aufmerksamkeit schenke, habe ich<br />
eine Stunde und 25 Minuten verschwendet.<br />
Nun kann man herausfinden,<br />
wie viel Geld man in der Zeit<br />
hätte verdienen können oder wie<br />
viele Kalorien man hätte abtrainierenkönnen.<br />
Da wir uns hier im Kulturteil befinden,<br />
soll berechnet werden, wie<br />
viele Bücher ich in der Zeit hätte lesen<br />
können. Der Rechner geht von<br />
einer Durchschnittslänge von 240<br />
Seiten aus, wobei auf einer Seite<br />
durchschnittlich 250 Wörter stehen.<br />
Die Lesegeschwindigkeit wird mit<br />
200 Wörtern pro Minute angesetzt,<br />
was bedeutet, dass man 1,25 Minuten<br />
für eine Seite braucht. Man<br />
könnte also 91 Bücher im Jahr lesen.<br />
Oder 65, wenn jedes 500 Seiten hat.<br />
Deswegen könnte man sich jetzt verachten.<br />
Andererseits gilt: Erkenntnis<br />
ist der erste Schritt zur Veränderung.<br />
VonPeter Uehling<br />
Die neue Oper „Heart<br />
Chamber“ von Chaya<br />
Czernowin, uraufgeführt<br />
am Freitag in der Deutschen<br />
Oper Berlin, beginnt mit einem<br />
Kontrabass-Solo. Uli Fussenegger<br />
steht rechts vonder Bühne in einer<br />
Box und zupft, streicht, tremoliert,<br />
schlägt aufs Griffbrett, von<br />
unten nach oben, wieder zurück bis<br />
ganz nach oben, wo sich die Sache<br />
auf zwei Tönen festfrisst. Dann geht<br />
auf der Bühne das Licht an und zwei<br />
Menschen auf Sesseln, vordem Niemandsland<br />
eines schwarzen Hintergrunds,schweigen<br />
uns an. Undnun?<br />
Das Kontrabass-Solo setzt etwas<br />
in Gang, in dem Bezüge prinzipiell<br />
schwer herzustellen sind. Die90Minuten<br />
kurze Oper ist komplex und<br />
simpel zugleich. Die israelische<br />
Komponistin schrieb sich den Text<br />
selbst, und er handelt vonzweiMenschen,<br />
die sich treffen, zusammenfinden<br />
und sich doch nicht finden,<br />
die träumen und streiten, und am<br />
Ende heißt es „I love you“, was man<br />
dann doch nicht für eine Lösung halten<br />
möchte.<br />
DerHoch-Tief-Gegensatz<br />
Man glaube nicht, dass dieses Setting<br />
Chaya Czernowin zu einem<br />
Kammerspiel inspiriert hätte. Den<br />
beiden Sängern der Hauptfiguren,<br />
der Sopranistin Patricia Ciofi und<br />
dem Bariton Dietrich Henschel, sind<br />
Innenstimmen beigesellt, die den<br />
Hoch-Tief-Gegensatz ausgleichen,<br />
ohne die Geschlechter-Polarität aufzuheben:<br />
NoaFrenkel ist als tiefer Alt<br />
der Frau zugeordnet, Terry Wey als<br />
Countertenor dem Mann. Dazu<br />
kommen zahlreiche Statisten auf die<br />
Bühne. Und außer dem Orchester<br />
und dem separaten Kontrabassisten,<br />
neben dem die Vokalartistin Frauke<br />
Aulbert sonderbare Geräusche hervorbringt,<br />
findet man links der<br />
Bühne das Ensemble Nikel mit Klavier,<br />
Saxophon, Schlagzeug und E-<br />
Gitarreund in zwei Logen ein Vokalensemble<br />
aus 16 Sängern.<br />
Dominant schließlich die Elektronik,<br />
teilweise live verfremdend,<br />
teilweise mit Samples arbeitend. Der<br />
Dirigent Johannes Kalitzke, der<br />
schon die drei vorigen Opern Czernowins<br />
uraufgeführthat, hält diesen<br />
Apparat zusammen; hätten wir ihn<br />
Vonaller Musik verlassen<br />
„Heart Chamber“, die neue Oper von Chaya Czernowin, handelt von Beziehungen<br />
Am Ende heißt es „I love you“: Dietrich Henschel und Patrizia Ciofi.<br />
MICHAEL TRIPPEL<br />
bei einer Probe nicht detaillierte Anmerkungen<br />
machen hören, stünde<br />
die Behauptung, er leite die Aufführung<br />
souverän, auf wackligen Füßen.<br />
Die Mittel sind gewaltig, der Effekt<br />
ist eher übersichtlich: Czernowin<br />
schreibt keine Überwältigungsmusik,<br />
vieles klingt überraschend<br />
dünn, aber dennoch so, als wäre es<br />
aus einer ursprünglichen Fülle destilliert.<br />
Auch der Text wirkt so: Ursprünglich<br />
wollte die Komponistin<br />
Abhandlungen aus medizinischen<br />
und psychologischen Büchern hineinarbeiten<br />
–nun sind nur einige-<br />
Sätze geblieben, die das Verhalten<br />
der Personen skizzieren und zugleich<br />
ihrezuweilen widersprechenden<br />
Gedanken. Wenig davon wird<br />
gesungen, vieles gesprochen und geflüstert.<br />
Eine Handlung ergibt sich<br />
kaum, entweder sitzen uns in der Inszenierung<br />
Claus Guths die beiden<br />
Personen gegenüber und hinter ihnen<br />
laufen Projektionen wie Erinnerungen<br />
ab,oder die Bühne dreht sich<br />
und zeigt eine moderne Villa. Indem<br />
vieles weggelassen wurde,vieles von<br />
dem Übriggebliebenen aber gleichzeitig<br />
abläuft, stellt sich spontan ein<br />
Gefühl vonÜberforderung ein –was<br />
nicht schlecht sein muss.<br />
Stilisiertund fragmentiert<br />
Wenn sich nur eine Verbindung zum<br />
Geschehen einstellen würde! Tief hineinnehmen<br />
in die Wechselfälle einer<br />
Liebesbeziehung will uns diese<br />
Oper, die Figuren flüstern ihre Geheimnisse<br />
dank Elektronik dem Hörerdirekt<br />
ins Ohr, aber wirkliches Interesse<br />
für diese stark stilisierten Figuren<br />
regt sich nie. Die Fragmentierung<br />
der Figuren in mehrere vokale<br />
und szenische Erscheinungsformen<br />
erschwertdie Anteilnahme nicht nur<br />
des Zuschauers: Auch die Sänger<br />
selbst haben dadurch keine „vollständige“<br />
Partie, die sie im vertrauten<br />
Sinne „gestalten“ könnten. Sie<br />
werden zu funktionalen Größen einer<br />
vonder Komponistin beherrschten<br />
Struktur, die den Ausführenden<br />
wenig Raum lässt, etwas beizutragen,<br />
den Rest an Spontaneität erledigt<br />
der Zeitplan der Elektronik und<br />
der Videos.<br />
So klinisch isoliert ist ein Beziehungsgeschehen<br />
kaum je zum Gegenstand<br />
einer Oper gemacht worden,<br />
und gerade diese weitestgehende<br />
Isolation von gesellschaftlichen<br />
oder gar metaphysischen<br />
Rahmungen ist aktuell. Man könnte<br />
„HeartChamber“ als musikdramatisches<br />
Pendant zu den soziologischen<br />
Untersuchungen vonCzernowins<br />
Landsfrau EvaIllouz verstehen,<br />
die das Schicksal der Gefühle im Kapitalismus<br />
untersucht: Ebenso isoliertwie<br />
hier wirddie Liebe zum nervös<br />
befragten, mit Erwartungen<br />
überfrachteten Mittelpunkt der<br />
emotionalen Existenz. Dass sich in<br />
all dem Hauchen, Knacken, Summen<br />
kein musikalischer Ausdruck<br />
dafür findet, ist bemerkenswert und<br />
grausam. WirscheinenimInnersten<br />
vonMusik verlassen. Alle Beteiligten<br />
empfing großer Applaus.<br />
Chaya Czernowin: HeartChamber,nächsteVorstellungen:<br />
21., 26.und 30. 11., 19.30 Uhr,<br />
DeutscheOper,Bismarckstr.35<br />
NACHRICHTEN<br />
Beatles-Fotograf<br />
TerryO’Neill gestorben<br />
Er wurde mit Aufnahmen der Beatles<br />
oder der Rolling Stones aus den 60er-<br />
Jahren berühmt: Im Altervon 81 Jahrenist<br />
der britische Fotograf Terry<br />
O'Neill am Sonnabend nach langer<br />
Krankheit gestorben. Dies teilte<br />
seine Agentur Iconic Images am<br />
Sonntag mit. In den 60er-Jahren galt<br />
TerryO'Neill als Chronist der „Swinging<br />
Sixties“ in London, wo er sich in<br />
der Welt vonMusikern, Models und<br />
anderen Berühmtheiten bewegte.Er<br />
porträtierte Schauspieler wie MichaelCaine,Sean<br />
Connery, Audrey<br />
Hepburn, Elizabeth Taylor und Brigitte<br />
Bardot und machte berühmte<br />
Aufnahmen vonFrank Sinatra. Später<br />
arbeitete er mit Musikernwie Elton<br />
John, David Bowie und Amy Winehouse<br />
zusammen. 2019 wurde<br />
O'Neill mit dem Orden „Commander<br />
of the British Empire“ für Verdienste<br />
um die Fotografie ausgezeichnet.(dpa)<br />
Antiquaria-Preis für<br />
Christoph Meckel<br />
DerSchriftsteller und Grafiker Christoph<br />
Meckel erhält den Antiquaria-<br />
Preis für Buchkultur.Der 84-Jährige<br />
werdefür sein grafisches Werk und<br />
seine faszinierende Eigenartausgezeichnet,<br />
in außergewöhnlicher<br />
Weise Dichtung und Grafik nebeneinander<br />
zu stellen und ineinander<br />
zu führen, teilte die Jury der Ludwigsburger<br />
Antiquariatsmesse mit.<br />
Meckel wirddie mit 10 000 Euro dotierte<br />
Auszeichnung Mitte Januar<br />
2020 zur Eröffnung der Antiquariatsmesse<br />
in Ludwigsburgentgegennehmen,<br />
wie die Organisatoren bekannt<br />
gaben. Meckel ist bereits<br />
mehrfach ausgezeichnet worden,<br />
u.a. mit dem Hölty-Preis. (dpa)<br />
„Wenn die Chinesen<br />
Rügen kaufen“<br />
Istder Titel eines Gespräches zwischen<br />
F.C. Delius und ParagKhanna<br />
auf Seite 9des Magazins der Sonnabend-Ausgabe.Leider<br />
ist die abgedruckte<br />
Fassung nicht die vonden<br />
Autoren durchgesehene.Wir bitten<br />
sie und die Leserinnen und Leser um<br />
Entschuldigung. Online steht jetzt<br />
die richtige Version. (BLZ)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Rom &Peter<br />
Der Strom ist<br />
nicht zu stoppen<br />
VonPeter Wawerzinek<br />
Nun also,sage ich mir an diesem Morgen,<br />
bin ich lange genug in Rom ansässig,<br />
dass Rom inmir Sodbrennen auslöst. Sodrommen<br />
oder Rombrennen möchte ich dazu<br />
sagen. Wie etwas Falsches gegessen oder<br />
eine Tüte Romroms geschluckt, stoßen mir<br />
Worte auf, die allesamt hauptsächlich die<br />
Silbe rom insich tragen. Zuerst ist das Wort<br />
Rombeere wie „Rom entbehren“. Dann<br />
drängt sich mir das Wort Rombeerbowle auf.<br />
Wasich von Rom weiß, in Rom erlebe, mir<br />
einbilde über Rom, rede über Rom–einzelne<br />
Früchte sind es. AmBoden ruhend, im Sud<br />
tanzend, zuckend, schwebend. Grüngelb,<br />
lilamalvenfarbig, taubengrau und ziegelsteinzeitlos.Tage,Stunden,<br />
Monate.<br />
Mein Metronom ist in Gang gesetzt und<br />
wirdzueinem Metromon. Lebenszeit tickt.<br />
Ich pilgere unzählige Male ins Zentrom<br />
Roms, halte mich in der Metrompole auf.<br />
Und schon wird die Silbe „trom“ hier dem<br />
Wort Traum so sehr verwandt. Wir tromen<br />
alle von Rom, ertrömen uns Rom als romantische<br />
Stadt, die doch ein Monstrom<br />
ist. Es gilt, das Bild von Rom zu entromen<br />
und zu überrompeln. Deswegen liefere ich<br />
mich Rom aus, seinen romatösen Zuständen.<br />
Deswegen erleide ich Rom, suche<br />
Romheim in Roms städtischen Rombulanzen,<br />
fiebrig römlings hingestreckt, um<br />
ständig neue Worte mit der Silbe Rom zu<br />
fantasieren. Futurom. Forom. Spektrom.<br />
KLAUS ZYLLA<br />
Plektrom. Maturom. Roma Koma. Der<br />
StromanWorten ist nicht zu stoppen.<br />
Es klingt in mir ein Rom inRom-A-Dur.<br />
Ein Rom-Atoll trollt toll auf der Promenade<br />
von Rom. Und seht nur, dort läuft Rometheus<br />
herom, als Romjuwel und Romleuchter.<br />
Den werde ich zu meinem Romzeugen<br />
machen. Romsoll in mir sein! Küss mich Romeo,<br />
werde du mein Romdeo. Rombivalent<br />
und rombitioniert und auf Rom bereitwillig<br />
eingeromt, will ich, durch Romvollkommen<br />
verromisiert, mit Rom endlich auf Mundhöhe<br />
rommunizieren. Du romsähmiges<br />
Rom, du, ich schlecke dich bis mir pappsatt<br />
von dir speirömel wird. Unerkannt, unbemannt<br />
und völlig romonym, suche ich in<br />
Romsorichtig romzig zu werden, bis ich fast<br />
schon so etwas wie ein Einromer bin. Ichwill<br />
mitrömen beim römisch Romlett, verlieren,<br />
gewinnen und jubelnd dann lauthals singen.<br />
Warom?, rufe ich fragend zum Himmel<br />
über Rom. Darom, antwortet der Rabe in mir<br />
aus der Familie Nevermore. Romgar Allan Poe<br />
bist du es, Edgar Alrom Poe? Undseht doch<br />
nur,lest selber! Nevermorerückwärts gelesen<br />
heißt eRom reven. Undreven ist doch dem<br />
englischen Ravenvom Klang her so gleich.<br />
So lasst denn also meine Raben sein über<br />
Rom. Rom soll flirren, surren, zirkulieren.<br />
Rom soll in mir romoren. Ich will eine Romsonde<br />
werden. Hokus Pokus Romulus. Der<br />
Rock’n’Rom soll durch mich auferstehen. Ich<br />
süchte Serom, Hörom, Tasteterom.<br />
Auf Rom zu rücke ich vorwärts mit meinem<br />
Romulator.Ganz ohne Romallüren entrolle<br />
ich meinen Romolog. Ich will dich atmen,<br />
Rom, trinken, will deine Promille auf<br />
meiner Zunge schmecken. Syndrom, Velodrom,<br />
Palindrom, Kondrom, Kosmodrom,<br />
Aerodrom lautet mein Reim zu Rom. Romsassa<br />
stampft der porzellanene Romofant in<br />
die Romdylle. Ich werde über Rom schreiben,<br />
wider die allgemeine Berömlichkeit,<br />
Romdingfest machen. Undhörtdochnur.Es<br />
spricht ein seltsamer Papst in mir: Der Promoter<br />
romovend zum Romgelee in Romolloss<br />
et Rominus denn Romeplus. Amen. Romen.<br />
Dromedar.