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22 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 270 · M ittwoch, 20. November 2019<br />
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Feuilleton<br />
Ein Begriff feiert Geburtstag<br />
Die Postdramatik, wie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann sie erfand, wird zwanzig<br />
VonDoris Meierhenrich<br />
Es ist eigentlich kurios, was<br />
dieses kleineWort schon alles<br />
auf dem Buckel hat. Dabei<br />
gehört es mit seinen<br />
zwanzig Jahren zu den jüngeren der<br />
Begriffsgeschichte: die Postdramatik.<br />
Möglicherweise winkt auch jetzt<br />
schon wieder der ein oder andereab<br />
–diese Modeworte mit „post“! Heiner<br />
Müller antwortete auf die Bezeichnung<br />
„postmodern“ trocken,<br />
dass er überhaupt nur einen Autor<br />
dieser Artkenne: August Stramm von<br />
der Post. Dabei hat die kleine lateinische<br />
Silbe mit der schillernden Bedeutung<br />
„nach“ den wunderbaren<br />
Vorteil, sich gleichzeitig auf etwas<br />
beziehen und doch kritisch davon<br />
absetzten zu können. Und schon ist<br />
man mittendrin in der nie stillzustellenden<br />
Denk- und Erfahrungsbewegung,<br />
die auch die „Postdramatik“<br />
auszeichnet. Wobei das mit den<br />
zwanzig Jahren −sovielGenauigkeit<br />
muss sein −gemogelt ist, denn natürlich<br />
geisterte der Begriff auch<br />
schon vor 1999 durch aufgeweckte<br />
Diskussionskreise über das,was sich<br />
seit den 1960er-Jahren auf und neben<br />
den Bühnen der Welt verschob.<br />
Apparate statt Augen<br />
Und das hatte viel mit den technischenVeränderungen<br />
vonWahrnehmung<br />
zu tun. Damit, dass Apparate<br />
immer wichtiger für das Sehen, Handeln<br />
und Urteilen wurden als die<br />
bloßen Augen selbst. Zuerst nur der<br />
gute alte Fernseher,der die Aufmerksamkeitsökonomien<br />
langsam verschob,<br />
auch die flinken Handkameras<br />
in den Händen vieler Väter.<br />
Schließlich aber tauschten die immer<br />
ausgefuchster und schneller<br />
werdenden multimedialen Digitaltechniken<br />
in Handys und Computern<br />
die geduldigen Augen eines<br />
stringent hinsehenden Betrachters<br />
gegen das viel schnellere, fragmentierte<br />
Wechselspiel vieler Bild- und<br />
Informationsquellen aus.<br />
Wäre es nur dabei geblieben,<br />
wäre die Postdramatik nicht viel<br />
mehr als ein medienevolutionäres<br />
Ereignis.Sehr bald aber richtete sich<br />
das Geschehen in der Welt selbst immer<br />
weniger nach je eigenen Logiken,<br />
als nach denen der medialen<br />
Beobachtung aus. Und das seit<br />
Shakespeares Zeiten natürlich nicht<br />
unbekannte Spiel zwischen Schein<br />
und Sein bekam eine ganz neue,manipulativeUndurchschaubarkeit.<br />
Eine Blüte des postdramatischen Theaters: Forced Entertainment. Mit ihrem sechsstündigen Quizmarathon sind sie beim Jubiläumsprogramm im HAU.<br />
Als einer der ersten erkannte der<br />
Theaterwissenschaftler Andrej<br />
Wirth, wie auch das Theater vonseinen<br />
Rändern her darauf reagierte.<br />
Wie etwa das Living Theatre seine<br />
Spielweisen und Kontakte mit dem<br />
Publikum nun in demonstrativer<br />
Ferne zur Kunst direkt auf den Straßen<br />
NewYorks suchte.Oder wie umgekehrtdie<br />
Wooster Group die Filmtechnik<br />
offensiv in eigenen, kritischen<br />
Gebrauch nahm. Sie alle<br />
schubsten das Theater aus dem klar<br />
strukturierten Dramenkorsett der<br />
Jahrhunderte ins Offene, Disparate,<br />
wofür Wirth 1982 auch das Institut<br />
für Angewandte Theaterwissenschaft<br />
in Gießen gründete.<br />
Erst 17 Jahre später aber, als<br />
Hans-Thies Lehmann der ersten<br />
umfassenden Studie über diese<br />
neuen Spielformen den Titel „Das<br />
postdramatische Theater“ verpasste,<br />
horchten die Granden der Theaterkritik<br />
plötzlich auf.<br />
Auf einmal hatten nicht nur die<br />
Drama verweigernden Dramen eines<br />
Heiner Müller und einer Elfriede<br />
Jelinek einen Gattungsnamen, sondern<br />
auch die nur als „Event“ oder<br />
„Happening“ behandelten, handlungslosen<br />
Spielrituale eines Robert<br />
Wilson. Mit dem Namen kam auch<br />
ein Status, und unversehens schlugen<br />
die Torhüter und Lordsiegelbewahrer<br />
der klassischen Kunst Alarm.<br />
Denn plötzlich schien das kleine<br />
Präfix der ehernen Hierarchie der<br />
Dramatik, in der das feste Gefüge aus<br />
Handlung und Rollenspiel die Spitze<br />
bildete,den Krieg anzusagen.<br />
Dabei zielt Postdramatisches<br />
am allerwenigsten auf kämpferische<br />
Abschaffung von dramatischen<br />
Mitteln, als vielmehr auf deren<br />
radikale Bewusstmachung,<br />
Ausweitung, Veruneindeutigung,<br />
in jedem Fall: auf immer neuen, nie<br />
fixierten Gebrauch. Dass mancher,<br />
der bis dahin glaubte, die dramatische<br />
Kunst durch und durch verstanden<br />
zu haben, sich dadurch<br />
angegriffen fühlte, ist unvermeidlich.<br />
Und so läutete Lehmanns<br />
Buch kurz vor der Jahrtausendwende<br />
tatsächlich auch eine kleine<br />
Zeitenwende in und um das Sehen<br />
und Sprechen vonTheater ein.<br />
Dass in dieser Woche nun nicht<br />
nur das Hebbel am Ufer (HAU) als einer<br />
der wichtigsten Förderer und zugleich<br />
selbst Kind dieses neunen Methodenbegriffs<br />
ein zehntägiges Performance-Programm<br />
startet, sondern<br />
auch die Akademie der Künste<br />
ein eigenes Symposium einberuft, ist<br />
DAVID SCHALLIOL<br />
da nur angemessen. Denn seltsamerweise<br />
kämpft das so theoriekritische<br />
Theorem, das angetreten ist,<br />
das Theater zu verlebendigen,<br />
Raum, Material, Licht, Text, Bewegung,<br />
auch die Zuschauer aus ihrer<br />
nur dienenden, nur schauenden<br />
Rolle zu befreien, bis heute mit dem<br />
Ruf, etwas besonders Theaterfeindliches<br />
zu sein.<br />
Zu ernst, zu real, zu unverständlich,<br />
zu viele Performerauf den Bühnen,<br />
die keine Rollen mehr spielen,<br />
nur sich selbst präsentierten und<br />
sich damit um die Kraft der welthaltigen<br />
Kritik brächten, lautet die Kritik.<br />
Undsorief vorzehn Jahren schon<br />
der DramaturgBernd Stegemann die<br />
Postphase der Postdramatik aus.<br />
Fast möchte man meinen, er<br />
hätte nie einen Abend von Forced<br />
Entertainment oder SheShe Popgesehen.<br />
Truppen, die unterschiedlicher<br />
kaum sein könnten, die aber<br />
beide, ganz postdramatisch, ihr<br />
Theater zuallererst aus der Kritik der<br />
eigenen Mittel entwickeln, diese<br />
Desillusionierung aber im zweiten,<br />
dritten Schritt immer wieder in ein<br />
Spiel mit Illusionen verwickeln.<br />
In den nächsten Tagen wird das<br />
im HAU zusehen sein. Drei Clowns<br />
werden in Forced Entertainments<br />
Quiz-Farce „Quizoola“ sechs Stunden<br />
lang mit annähernd 2000 Fragen<br />
und Antworten dieWelt zu erklärenversuchen.<br />
Wobeisich im Verlauf<br />
dieses unmöglichen Bühnenduells<br />
selbstredend alles andereentwickelt<br />
als eine Welterklärung. Langsam<br />
wird die Zeit zum Regisseur des<br />
Abends werden und die Fitness der<br />
Spieler, ihre Improvisations- und<br />
Provokationslust, ihr Hang zum<br />
Machtkampf, zumWitz, zurVerstellung<br />
die Spielregeln stauchen und<br />
dehnen. Immer auf Messers<br />
Schneide zwischen Kunst und Leben,<br />
Sinngebung und Sinnflucht<br />
aus, wird das unmögliche Bühnenquiz<br />
zur Modellstudie des Gesellschaftswesen<br />
„Mensch“ an sich.<br />
EinPerformer,viele Selbste<br />
Ja es stimmt, postdramatisches Spielen<br />
ist immer selbstbezüglich, aber<br />
kein Performer ist darin je nur er<br />
selbst, sondern zusammengesetzt<br />
aus vielen Selbsten. Einige Meisterschaft<br />
haben die Rechercheure von<br />
She She Pop darin erlangt, die zum<br />
Geburtstag eine Art postdramatischen<br />
„Kanon“ entwickeln wollen,<br />
dersich aufZuruf ausdem Publikum<br />
jeden Abend neu ergibt. Szenen der<br />
beeindruckensten Theatererfahrungen<br />
sollen, je nachdem, einfach<br />
nachgespielt, erzählt, ertanzt werden,<br />
undalleinschon in dersich auftuenden<br />
Lücke zwischen Original,<br />
Erinnerung und Nacherzählung<br />
wird die kreative Kraft des Postdramatischen<br />
sichtbar. She She Pop<br />
spielen nicht, wie Tim Etchells<br />
Truppe, sie zeigen −und an diesem<br />
Abend zeigen sie Theater als Gedächtnisraum,<br />
das im besten Fall<br />
immer„post“, weil nieeinfach da ist,<br />
sondern imVerlauf gesucht werden<br />
muss, wie Heiner Müller schreibt:<br />
„zwischen Blickund Blick“.<br />
Doris Meierhenrich<br />
liebt am Theater auchdas<br />
Spiel mitden Mitteln<br />
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