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November KONTAKT <strong>2010</strong><br />
Unzeitgemäße Tugenden<br />
(c4keit<br />
„Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man<br />
ohne ihr", so lautet - grammatikalisch unsauber - ein<br />
Sprichwort. Es hebt ab auf die Erfahrung, dass Höflichkeit<br />
im Konkurrenzkampf des Lebens das Vorankommen<br />
behindert. Doch ist dies eigentlich ein guter<br />
Rat?<br />
Höflichkeit ist eine Tugend, die die Menschlichkeit<br />
im Umgang miteinander fördert. Dort, wo die Sorge<br />
um den Nächsten an die Belastungsgrenze führen<br />
kann, ermöglicht Höflichkeit kleine, aber spürbar<br />
wohltuende Schritte im Umgang miteinander.<br />
Grüßen und einen Gruß erwidern, sich verabschieden<br />
und nicht einfach wortlos verschwinden, an die Tür<br />
anklopfen — auch beim eigenen Kinde — vor Privaträumen<br />
und Büros Respekt haben, einen anderen<br />
nicht in Verlegenheit bringen, es ihm ersparen, dass<br />
er blamiert wird oder sich schämen muss, dem anderen<br />
den Vortritt lassen, einem Fremden mit Achtung<br />
begegnen und nicht sofort mit dem Verdacht, er sei<br />
möglicherweise ein Krimineller oder einer, der auf<br />
Kosten unseres Landes leben will — im Grunde durchzieht<br />
die Höflichkeit unseren Alltag, angefangen vom<br />
einfachen „Bitte" und „Danke" bis dahin, im<br />
anderen ein Ebenbild Gottes zu sehen.<br />
Höflichkeit ist das Gegenteil von Rücksichtslosigkeit,<br />
von vulgären und ungehemmten Umgangsformen,<br />
von Verletzung der Diskretion<br />
oder Schädigung des guten Rufes. Sie ist mehr<br />
als nur das korrekte Einhalten von Benimmregeln,<br />
die manchmal auf Skepsis stoßen, weil<br />
sie aus einer anderen, aus einer „höfischen"<br />
Gesellschaft stammen. Sie kann formal sein<br />
und in Scheinhöflichkeit, Förmlichkeit, Unaufrichtigkeit<br />
abgleiten. Aber dann handelt es sich<br />
gerade nicht mehr um Höflichkeit, sondern nur<br />
noch darum, so zu tun als ob.<br />
Höflichkeit ist gekonnte Zuwendung und kennt<br />
keine Hintergedanken. Sie bewirkt Entkrampfung<br />
dort, wo im täglichen Miteinander das<br />
Gefühl von Enge entsteht: in der kleinen Mietwohnung,<br />
im Großraumbüro, beim Stau auf der<br />
Autobahn, vor der Kasse im Supermarkt. Man<br />
reibt sich aneinander, die anderen gehen einem auf<br />
die Nerven. Höflichkeit ist die Kraft, dem anderen<br />
Raum zu lassen, Rücksicht auf ihn zu nehmen, sich<br />
nicht auf Kosten der anderen vorzudrängen und<br />
durchzusetzen.<br />
Romano Guardini hat einmal von der Höflichkeit<br />
Gottes gesprochen und damit gemeint: Gott gönnt<br />
uns täglich unseren Lebensraum. Er engt uns nicht<br />
ein, übt keinen Zwang und keinen Druck aus, Gott ist<br />
höflich.<br />
Dann wäre unsere menschliche Höflichkeit der gute<br />
Stil, dem anderen Entfaltungsraum zu lassen, ohne<br />
ihn akustisch, gestisch, verbal oder wie auch immer<br />
zu bedrängen. Höflichkeit schützt diesen Raum, sie<br />
achtet und ehrt die private Sphäre, die jede und jeder<br />
um sich hat; sie weiß um diese Verwundbarkeit und<br />
Fragilität der und des anderen und fügt nicht unbedacht<br />
Schmerzen zu. So ist sie das, als was sie gern<br />
bezeichnet wird: „die kleine Schwester der Nächstenliebe".<br />
Entnommen aus der Zeitschrift „Franziskaner"<br />
Franz Richardt ofm<br />
Auch Kinder haben ein Recht<br />
auf Privatsphäre:<br />
Höflichkeit beginnt beim Anklopfen an der Zimmertür<br />
oder beim Respektieren eines Telefongesprächs<br />
- sie ist der gute Stil, mit dem wir anderen<br />
die Freiheit zur Entfaltung lassen.