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Im Zentrum von Christoph Marthalers Musiktheater-Kreation steht Alexander

Skrjabins 1908 uraufgeführtes Orchesterstück Le Poème de l’Extase. Eine

groß besetzte, kompromisslose und euphorische Komposition, geschrieben

in verwirrenden Zeiten des Übergangs: Anfang des 20. Jahrhunderts

erzeugen neue Wachstumsvorgaben einen tiefgreifenden Wandel der

Produktions- und Arbeitsbedingungen in den Bergwerken, Zechen und

Fabriken; Finanzkapitalismus und Monopolwirtschaft verschärfen die ungleiche

Verteilung des Geldes und verursachen in den westlichen Gesellschaften

ein zunehmendes Gefühl der Orientierungslosigkeit. Ein Umstand,

den auch der Schriftsteller Franz Kafka in seinem Buch Der Verschollene

aufgreift. Das Romanfragment, in dem Kafka von einem Amerika-Auswanderer

berichtet, der im Land der unbegrenzten Möglichkeiten verloren zu

gehen droht, ist angefüllt mit den irritierenden Klängen und Rhythmen der

Neuen Welt. Fast erscheinen die einzelnen Episoden des Romans wie Teile

einer musikalischen Komposition: vielstimmig, kontrastreich instrumentiert,

auftrumpfend, fragil, voller Einleitungen, Höhepunkte, Wiederholungen,

Fermaten und Trugschlüsse. Eine Assoziation, die Christoph Marthaler für

seine Inszenierung weiterdenkt: So bringt er Motive aus Kafkas Erzählung

mit Skrjabins Poème sowie Werken des ungarischen Komponisten Béla

Bartók in Verbindung. Mehr noch: Marthaler erfindet ein Musiktheater, in

dem sich keine einzelne Romanfigur, sondern der gesamte Klangkörper

der Bochumer Symphoniker in Bewegung setzt, um den Kräften einer sich

ausbreitenden Verlorenheit entgegenzuwirken. Gemeinsam erreichen die

fast einhundert Musiker*innen schließlich das rätselhafte „Naturtheater von

Oklahoma“ und sind nicht wenig überrascht, dass an diesem Ort auch „unter

Tage“ gearbeitet wird. Allem Anschein nach geht es um die Förderung bisher

unentdeckter Rohstoffe. Niemand kann sagen, ob sie organischen, anorganischen

oder utopischen Ursprungs sind. Fest steht nur, dass zur Freilegung

ein großes Orchester benötigt wird. Mindestens. Besser wären zwei.

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