ruhrtriennale_2020_programmbuch
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Im Zentrum von Christoph Marthalers Musiktheater-Kreation steht Alexander
Skrjabins 1908 uraufgeführtes Orchesterstück Le Poème de l’Extase. Eine
groß besetzte, kompromisslose und euphorische Komposition, geschrieben
in verwirrenden Zeiten des Übergangs: Anfang des 20. Jahrhunderts
erzeugen neue Wachstumsvorgaben einen tiefgreifenden Wandel der
Produktions- und Arbeitsbedingungen in den Bergwerken, Zechen und
Fabriken; Finanzkapitalismus und Monopolwirtschaft verschärfen die ungleiche
Verteilung des Geldes und verursachen in den westlichen Gesellschaften
ein zunehmendes Gefühl der Orientierungslosigkeit. Ein Umstand,
den auch der Schriftsteller Franz Kafka in seinem Buch Der Verschollene
aufgreift. Das Romanfragment, in dem Kafka von einem Amerika-Auswanderer
berichtet, der im Land der unbegrenzten Möglichkeiten verloren zu
gehen droht, ist angefüllt mit den irritierenden Klängen und Rhythmen der
Neuen Welt. Fast erscheinen die einzelnen Episoden des Romans wie Teile
einer musikalischen Komposition: vielstimmig, kontrastreich instrumentiert,
auftrumpfend, fragil, voller Einleitungen, Höhepunkte, Wiederholungen,
Fermaten und Trugschlüsse. Eine Assoziation, die Christoph Marthaler für
seine Inszenierung weiterdenkt: So bringt er Motive aus Kafkas Erzählung
mit Skrjabins Poème sowie Werken des ungarischen Komponisten Béla
Bartók in Verbindung. Mehr noch: Marthaler erfindet ein Musiktheater, in
dem sich keine einzelne Romanfigur, sondern der gesamte Klangkörper
der Bochumer Symphoniker in Bewegung setzt, um den Kräften einer sich
ausbreitenden Verlorenheit entgegenzuwirken. Gemeinsam erreichen die
fast einhundert Musiker*innen schließlich das rätselhafte „Naturtheater von
Oklahoma“ und sind nicht wenig überrascht, dass an diesem Ort auch „unter
Tage“ gearbeitet wird. Allem Anschein nach geht es um die Förderung bisher
unentdeckter Rohstoffe. Niemand kann sagen, ob sie organischen, anorganischen
oder utopischen Ursprungs sind. Fest steht nur, dass zur Freilegung
ein großes Orchester benötigt wird. Mindestens. Besser wären zwei.
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