VSAO JOURNAL Nr. 5 - Oktober 2020
Raum - Aufräumen, heilen, malen, bloggen Orthopädie - Orthopädische «Kurvendiskussion» Schmerz - Analgetikaunverträglichkeit: Intoleranz oder Allergie? Politik - Neuer vsao-Präsident
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Politik<br />
Unsolidarische<br />
Solidarität<br />
Dieses Jahr ist irgendwie alles anders als sonst.<br />
Sars-CoV-2 hat das Leben auf den Kopf gestellt. Als<br />
im März langsam klar wurde, dass uns die Pandemie<br />
schneller und möglicherweise auch härter als von<br />
vielen erwartet treffen könnte, überstürzten sich die Ereignisse.<br />
Es galt die Empfehlung, das Haus nur für die Arbeit oder dringende<br />
(Arzt-)Termine zu verlassen. Von einem Tag auf den<br />
anderen fanden meine Konsultationen mehrheitlich telefonisch<br />
statt. Insbesondere bei den älteren Menschen musste ich mich<br />
daran gewöhnen, dass ich für sie genauso da sein kann, auch<br />
wenn wir uns nur am Telefon hören. Es war mir<br />
deshalb besonders wichtig, zu erfahren, wie es<br />
ihnen physisch und psychisch geht, legte<br />
ihnen nahe, nicht selbst einkaufen zu<br />
gehen, und unterstützte sie dabei,<br />
Hilfe zu organisieren.<br />
Als dann unsere Gesellschaft –<br />
die ich bisher als mehrheitlich<br />
individualistisch und egoistisch<br />
gesehen habe – zusammenrückte<br />
und die Menschen solidarisch<br />
füreinander da waren, hat mich<br />
das richtig berührt. Innert kurzer<br />
Zeit hatten sich Verwandte, Nachbarschaft,<br />
aber auch junge Menschen<br />
organisiert – freiwillig und<br />
unentgeltlich, um die besonders<br />
gefährdeten Personen zu schützen und zu<br />
unterstützen. Dies half mir, mich etwas mit<br />
der Gesamtsituation zu versöhnen. Ich dachte<br />
mir: Die medizinischen, gesellschaftlichen, politischen<br />
und ökonomischen Herausforderungen sind zwar riesig, aber<br />
zusammen werden wir sie und die Pandemie bewältigen. Das<br />
kommt gut in den nächsten Jahren!<br />
Als diese spontane und uneigennützige Energie bei vielen<br />
schnell verpuffte, kam meine persönliche Enttäuschung dann<br />
doch schneller als erwartet. Schon nach wenigen Wochen<br />
wurden versprochene Einkäufe immer häufiger nicht erledigt<br />
oder Menschen zogen sich sogar ganz aus dem Freiwilligendienst<br />
zurück. Einige gaben neue Hobbys oder eine zeitintensive<br />
Sportaktivität als Grund an.<br />
Selbstverständlich darf jede Person selbst entscheiden, ob<br />
und wie lange sie freiwillig für andere Menschen da ist. Aber<br />
wenn ich mich für eine Hilfeleistung entscheide und die<br />
bedürftige Person zu unterstützen beginne, wird diese zumindest<br />
ein Stück weit von mir abhängig. Dieses Angebot kurzfristig<br />
Auf den<br />
Punkt<br />
gebracht<br />
wieder zurückzuziehen und den anderen Menschen im Stich zu<br />
lassen, erlebte ich in gewissen Situationen als herzloser, als<br />
wenn die Hilfe gar nie angeboten worden wäre.<br />
Gemäss Definition «bezeichnet Solidarität … als Grundprinzip<br />
des menschlichen Zusammenlebens ein Gefühl von Individuen<br />
und Gruppen, zusammenzugehören. Dies äussert sich in gegenseitiger<br />
Hilfe und dem Eintreten füreinander». Für mich bedeutet<br />
Solidarität auch, dass mein Engagement für andere mich etwas<br />
kostet, sei es Zeit, Kraft oder Geld. Und sie ist auch eine Verpflichtung<br />
und ein Versprechen ihnen gegenüber. Folglich<br />
waren in meinen Augen diejenigen nicht solidarisch,<br />
die sich im März in den sozialen Medien<br />
inszenierten, wie sie für die ältere Nachbarin<br />
den Einkauf erledigten oder Kinder<br />
hüteten, um selbst gut dazustehen,<br />
und ihren Einsatz wenige Wochen<br />
später stillschweigend zu Gunsten<br />
einer interessanteren Freizeitbeschäftigung<br />
abbrachen. Echte<br />
Solidarität kommt von Herzen und<br />
hält länger, auch länger als eine<br />
Pandemie!<br />
Um nicht alles nur schwarzzumalen:<br />
Ich erlebe auch heute<br />
noch – wie bereits vor Corona und<br />
fernab der Inszenierung in sozialen<br />
Medien – täglich zahlreiche Zeichen<br />
und Gesten der Solidarität, in Erzählungen<br />
meiner Patientinnen und Patienten, in<br />
der Nachbarschaft, im familiären Umfeld. Dies<br />
hält unsere Gesellschaft zusammen und stimmt mich<br />
doch weiterhin optimistisch für unsere gemeinsame Zukunft!<br />
Angelo Barrile<br />
Präsident vsao<br />
<strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal 5/20 13