VSAO JOURNAL Nr. 5 - Oktober 2020
Raum - Aufräumen, heilen, malen, bloggen Orthopädie - Orthopädische «Kurvendiskussion» Schmerz - Analgetikaunverträglichkeit: Intoleranz oder Allergie? Politik - Neuer vsao-Präsident
Raum - Aufräumen, heilen, malen, bloggen
Orthopädie - Orthopädische «Kurvendiskussion»
Schmerz - Analgetikaunverträglichkeit: Intoleranz oder Allergie?
Politik - Neuer vsao-Präsident
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Fokus<br />
Der Eisnebel löste sich auf dem<br />
Hörnligrat oberhalb von Arosa<br />
auf. Die winterliche Morgensonne<br />
stand waagrecht zu<br />
mir und strahlte durch die Reste des Eisnebels.<br />
Instinktiv zückte ich mein Smartphone,<br />
denn in diesem Moment bildete<br />
sich ein unglaublich schöner Halo. Blitzschnell<br />
fotografierte ich mit dem Smartphone<br />
und brachte zur eigenen Überraschung<br />
diesen Lichteffekt in seiner<br />
Gesamtheit auf den Chip. Nur einige Minuten<br />
später ging eines der Bilder dieses<br />
Halos per WhatsApp und Twitter raus in<br />
den digitalen Raum. Was ich nie geahnt<br />
hätte: Genau dieser Tweet wurde tausendfach<br />
gelikt und retweetet und erreichte<br />
am Schluss viral über Blogs, Newsportale<br />
und Tageszeitungen Millionen<br />
von Lesern. «A photographer in the Swiss<br />
Alps has captured a remarkable image of<br />
an ice halo, the moment ice crystals freeze<br />
in midair, creating a halo effect around<br />
the Sun», schrieb beispielsweise der USamerikanische<br />
Nachrichtensender Fox<br />
News. Der kleine Raum meiner sozialen<br />
Medienwelt wurde über Stunden riesengross!<br />
Alles nur Narzissmus?<br />
Und jetzt? Die drei Minuten Ruhm hatte<br />
ich! Obendrein viel kostenlose Arbeit, um<br />
alle die Anfragen von Bildredaktionen zu<br />
bearbeiten. Warum habe ich dieses Bild<br />
überhaupt gepostet, warum teilen Menschen<br />
wie ich im Netz Fotos und Gedanken,<br />
und warum sehen/lesen wir so gerne<br />
von anderen Menschen? Natürlich kann<br />
man die Frage stellen, ob Menschen, die<br />
Fotos und Gedanken in den digitalen<br />
Raum posten, alle narzisstisch veranlagt<br />
sind. Brüten soziale Netzwerke allenfalls<br />
sogar Narzissten aus? Oder sind Instagram<br />
& Co. bloss die nötige Bühne für alle Selbstdarsteller?<br />
Für mich ist dies zu einfach. Nur weil<br />
ich gerne fotografiere und meine Werke<br />
zusammen mit kleinen Geschichten über<br />
meinen Blog und so über Twitter, Instagram<br />
& Co. weiterverbreite, bin ich doch<br />
deswegen nicht gleich selbstverliebt! Oder<br />
sogar narzisstisch! Ist es nicht eher, dass<br />
wir heute in einer Zeit leben, in welcher die<br />
Vermarktung des eigenen Ichs und Tuns<br />
von der Gesellschaft erwartet wird? Und<br />
zwar face to face wie auch online?<br />
Der Halo-Tweet zeigt eindrücklich auf,<br />
wie ich im digitalen Raum verschiedene<br />
Nutzer erreichen und mich mit ihnen austauschen<br />
kann. Ich kann mich in eigenen<br />
definierten Räumen bewegen. Darin nutze<br />
ich die Kommunikation und Vernetzung<br />
einerseits, um Wissen, Meinungen und Informationen<br />
auszutauschen, andererseits,<br />
um meine Fotografien bewerten zu lassen<br />
und um zu inspirieren. Natürlich gibt es<br />
auch Personengruppen, die sich in ihren,<br />
in anderen digitalen Räumen bewegen,<br />
sich in der Selbstpräsentation üben und<br />
sich überwiegend mit materiellen Dingen<br />
beschäftigen – wie im realen Leben auch.<br />
«Truly all photographs<br />
are self-portraits.»<br />
Elizabeth Opalenik,<br />
Photographic Artist<br />
Im digitalen Raum gehen lernen<br />
Den richtigen Umgang mit diesen sozialen<br />
Medien musste ich vor einigen Jahren allerdings<br />
zuerst lernen, denn anfänglich<br />
lockten mich Twitter und Instagram raffiniert<br />
immer tiefer in ihre Welt, nicht zuletzt,<br />
weil sie eine Schwäche von mir ausnutzen<br />
konnten: Meine Art, immer aktiv<br />
und produktiv zu sein, traf voll den Nerv.<br />
Zuletzt bin ich tatsächlich dem Spiel um<br />
Anerkennung erlegen. Aus einer schönen<br />
Zeitverschwendung wurde Zeitvernichtung!<br />
So habe ich die Schattenseite der Social<br />
Media kennengelernt und bin einfach<br />
ausgestiegen, habe diesen digitalen Raum<br />
verlassen, die Zugänge gekappt und die<br />
Kanäle einfach ohne mich weiterrauschen<br />
lassen.<br />
In der Folge habe ich Zeit gewonnen.<br />
Zum Nachdenken. Zum Lesen. Oder einfach<br />
so. Ich habe besser geschlafen, nach<br />
ein paar Tagen fühlte ich mich ruhiger<br />
und konzentrierter. Mein Verstand verlangsamte<br />
sich, und ich wurde präsenter<br />
in dem, was ich tat.<br />
Meine Räume beschränkten sich nur<br />
noch auf die reale Welt. So erkannte ich<br />
nach einigen Wochen, dass es ganz ohne<br />
digitales Leben nicht geht. Die totale Abstinenz<br />
für mich nicht der richtige Weg ist.<br />
WhatsApp ist Teil meiner persönlichen<br />
Kommunikation, und als Hobbyblogger<br />
stehe ich sowieso im digitalen Raum. Ein<br />
Blog ohne die Kanäle der sozialen Medien<br />
macht in der heutigen Zeit wenig Sinn.<br />
Zurück in mein altes Schema wollte<br />
ich nicht mehr, da war einiges falsch gelaufen.<br />
Und meine kostbar gewonnene<br />
Zeit wollte ich behalten. Positiv kam mir<br />
entgegen, dass ich von vielen Lesern und<br />
Leserinnen meines Blogs Anregungen erhalten<br />
habe, wie man mit den Social Media<br />
«gesund» umgehen kann. Daraus habe<br />
ich meinen eigenen digitalen Kodex zusammengebastelt,<br />
und heute macht mir<br />
der Umgang mit den sozialen Medien immer<br />
noch Spass.<br />
Mein Aroser Halo-Tweet zeigte mir<br />
eindrücklich auf, was die sozialen Medien<br />
für Möglichkeiten und Überraschungen<br />
bieten. Und während der Coronapandemie<br />
fing ich an, das Ganze noch mehr zu<br />
schätzen. Klar, die klassischen Medien,<br />
beispielsweise die Tagespresse, waren<br />
meine Informationsquellen. Doch über<br />
die sozialen Medien konnte ich meine persönlichen<br />
Kontakte aufrechterhalten. Und<br />
neben meinem harten Berufsalltag war da<br />
gleichzeitig ein Raum, in welchem ich Ablenkung,<br />
Hoffnung und Inspiration fand.<br />
Und zwischendurch die Welt durch andere<br />
Augen sehen konnte.<br />
<strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal 5/20 27