VSAO JOURNAL Nr. 5 - Oktober 2020

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Perspektiven Aktuelles aus der Orthopädie – Adoleszente Idiopathische Skoliose – Ätiologie und aktuelle Therapiekonzepte Orthopädische «Kurvendiskussion» Die genetische Ursache der meisten Skoliosen ist unbestritten, wenn auch die genauen Erbgänge noch nicht entschlüsselt sind. Das Korsett ist weiterhin das Mittel der Wahl zur konservativen Therapie mittelgradiger Skoliosen in Kombination mit Physiotherapie. Für die Zukunft zeichnen sich neue operative Verfahren ab. Dr. med. Christian Tinner und Dr. med. Moritz C. Deml, Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern Eine Skoliose ist eine komplexe, dreidimensionale Deformität der Wirbelsäule, des Thorax und des Rumpfes. Sekundäre Skolioseformen, wie bei neuromuskulären Erkrankungen, syndromal oder kongenital bedingt, machen ca. 20 Prozent aller Skoliosefälle aus. Rund 80 Prozent sind idiopathisch – mit bislang unbekannter Ursache. Mit zwei bis drei Prozent Inzidenz ist die Adoleszente Idiopathische Skoliose (AIS) die häufigste Form und betrifft weltweit Millionen von Jugendlichen ab dem zehnten Lebensjahr. Mädchen sind hierbei häufiger und mit stärkerer Ausprägung der Skoliose als Jungen betroffen, wobei sich das Verhältnis w:m von 1,4:1 bei milden Formen von einem Cobb-Winkel unter 20 ° deutlich verschiebt auf w:m 7:1 in schweren Formen über 30 °. Eine sichere und plausible Erklärung für diesen Unterschied in der Geschlechterverteilung konnte bisher nicht gefunden werden [1]. Verschiedenste Faktoren mit Einfluss auf die Ätiologie der AIS wurden untersucht. Die positive Familienanamnese liegt nach Daten des dänischen Zwillingsregisters bei etwa 40 Prozent und ist ein offensichtlicher Risikofaktor für Auftreten und Schwere einer Skoliose [2]. Zwar konnten für einzelne ethnische Gruppen häufig vorkommende genetische Prädispositionen gefunden werden, aber die exakte genetische Vererbung bleibt vorerst ungeklärt [1]. Neben der reinen genetischen Veranlagung werden epigenetische Prozesse diskutiert, die u.a. in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen unterschiedliche Genaktivierungen und/oder -deaktivierungen bewirken können [3]. Zahlreiche Einflussgrössen wurden in unterschiedlichen Studien untersucht. So scheint die Wachstumsgeschwindigkeit einen Einfluss auf die Entstehung einer AIS zu haben, denn Auftreten und Progression sind oft während des adoleszenten Wachstumsschubes zu sehen. Dennoch konnte in Bezug auf Wachstumsmuster und Laxizität kein sicherer Zusammenhang gefunden werden. Dasselbe gilt für anatomische und biomechanische Theorien, woraus lediglich resultiert, dass bei bereits bestehender Skoliose die ungleichen Belastungen der Wachstumsfugen der Wirbelköper zur schnelleren Zunahme der Skoliose im jugendlichen Wachstumsschub mit asymmetrischem Wachstum der Wirbelkörper führen können – entsprechend dem Hueter-Volkmann-Gesetz [4]. Eine neuere Arbeit wirft die Theorie auf, dass evtl. der Aufbau der Darmflora in einem Zusam- menhang mit der Entwicklung einer AIS stehen könnte. Dabei wurden in AIS-Patienten einzelne Bakterienstämme signifikant häufiger gefunden als bei gesunden Probanden desselben Alters [5]. Es konnte darüber hinaus eine positive Korrelation bzgl. der Konzentration des Bakterienstammes und der Schwere des Cobb-Winkels gezeigt werden [6]. In derselben Arbeit wurde eine fragliche Beteiligung von mit der Muskelfunktion in Verbindung stehenden Proteinen gefunden, die fraglich mit der Entstehung einer AIS zusammenhängen. Dies sind erste Forschungsergebnisse, die die Theorie der epigenetischen Einflussfaktoren unterstützen können, die allerdings in der Zukunft noch bestätigt und weiter untersucht werden müssen, um die genaue Bedeutung auf die Entwicklung einer Skoliose zu verstehen. Zusammenfassend gibt es zahlreiche Hinweise, dass genetische Faktoren sicher und einzelne Umweltfaktoren evtl. einen Einfluss auf die Ätiologie einer AIS haben. Die Entschlüsselung der genauen Zusammenhänge ist aber weiterhin Teil zukünftiger Forschungsprojekte. Diagnose Eine Skoliose fällt oft bei einem Routineuntersuch aufgrund sekundärer Hin- Bilder: zvg 34 5/20 <strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal
Perspektiven weise wie Schulter- oder Beckenschiefstand, Beinlängendifferenz, aber insbesondere einem Rippenbuckel oder Lendenwulst im Adams-Test (Vorbeugetest) auf. Bei längerem Bestehen können bereits chronische Schmerzen oder gar Kompromittierung von Organfunktionen imponieren, wobei dies bei der AIS in höherem Masse in entwickelten Ländern sehr selten geworden ist. Klinisch ist eine einfache Messung an dem vornübergebeugten Patienten mit dem Scoliometer möglich (Adams-Test). Eine Abweichung von 7 ° kann einer Skoliose von bis zu 20 ° entsprechen und sollte zwingend weiter beurteilt und mittels weiterer Diagnostik objektiviert werden [7]. Die meisten AIS sind rechtsthorakal-konvexe Kurven. Die sehr viel seltenere linksthorakale Konvexität kann mit syndromalen Erkrankungen oder anderen Grunderkrankungen vergesellschaftet sein, weshalb ein MRI zur weiterführenden Diagnostik im Rahmen des Gesamtkontexts diskutiert werden sollte [8, 9]. Die Quantifizierung der Skoliose erfolgt mittels Messung des Cobb-Winkels an einer stehenden Röntgenaufnahme antero-posterior der gesamten Wirbelsäule (Abb. 1a). Der Cobb-Winkel wird durch Verbindung der Verlängerung der Endplatten der jeweiligen Endwirbel (Wirbelkörper mit der stärksten Abkippung) gezeichnet [10]. Für die Bestimmung des Schweregrades einer Deformität sind die früher vernachlässigten sagittalen Parameter ebenso relevant (Abb. 1b) [11]. Die Rotationskomponente wird mit der Methode nach Nash&Moe in vier Grade eingeteilt [12] . Ab einem Cobb-Winkel von 10 ° spricht man von einer Skoliose, darunter in der Regel von einer skoliotischen Fehlhaltung, wobei dieser Begriff insbesondere bei sehr jungen Patienten irreführend sein kann. Unabhängig vom Schweregrad bedarf jede Skoliose im Wachstumsalter einer weiteren Observation bis zum Abschluss der Adoleszenz. Konservative Therapie Bei einem Cobb-Winkel von über 10 ° empfiehlt sich die regelmässige Physiotherapie mit Haltungsschulung. Leider liegt keine klare Evidenz für eine spezifische Physiotherapieform vor, weshalb grundsätzliche Massnahmen und Übungen für die Kräftigung der Muskelbalance bzw. den Ausgleich von Muskeldysbalancen empfohlen sind, die nach Möglichkeit so häufig wie möglich auch in Eigentherapie a b Abb. 1 a) Röntgenbild Wirbelsäule ap mit thorakolumbaler Skoliose mit thorakalem Cobb-Winkel von 55 ° (rot), lumbaler Gegenkrümmung von 30 ° (blau) und Verlagerung des Lots von C7 nach rechts (grün). E: Endwirbel, A: Apex-/Scheitelwirbel. b) Röntgenbild Wirbelsäule seitlich mit thorakaler Kyphose (rot) und lumbaler Lordose (blau) und Lot von C7 auf S1 (grün). absolviert werden sollten. Für Krümmungen ab 20 ° und nachgewiesenem bzw. zu erwartendem Progress umfasst die bisherige Standardtherapie eine konservative Behandlung mit Physiotherapie in Kombination mit einer Korsetttherapie. Im letzten Jahrhundert konnten unterschiedliche Korsettkonzepte entwickelt und etabliert werden. In Mitteleuropa hat sich das Konzept des Cheneau-Korsetts durchgesetzt, das eine dreidimensionale Rotationskorrektur der Skoliose mit Druck von aussen über so genannte Pelotten im Korsett erreichen soll. Das Korsett soll nach Möglichkeit mindestens 18–22 Stunden am Tag getragen werden, wobei es für Sport, Physiotherapie und Körperpflege abgenommen werden kann [13]. Die Möglichkeiten einer Korrektur im HWS- und oberen BWS-Bereich bleiben weiterhin sehr beschränkt. Grundsätzlich werden die Korsettschalen an einer Positivform aus Styropor oder ähnlichem Material mit Polyethylen (PE) angepasst. Fortschreitende Materialentwicklungen ermöglichen inzwischen dreidimensional gedruckte Modelle, die in ersten klinischen Anwendungen etabliert werden konnten (Abb. 2). Diesbezüglich weisen erste, sehr begrenzte, nicht standardisierte Untersuchungen auf einen verbesserten Tragekomfort und eine damit potenziell erhöhte Tragezeit hin. Die Gleichwertigkeit und gar eine Überlegenheit ist jedoch bisher nicht sicher nachgewiesen, weswegen die Standardversorgung weiterhin mittels PE-Korsett erfolgt. Operative Therapie Schreitet die Krümmung trotz konservativer Therapie rasch voran oder wurde sie zu spät diagnostiziert, muss eine operative Therapie diskutiert werden, um die Deformität zu reduzieren und eine weitere Progression zu verhindern. Damit sollen u.a. die kranialen und kaudalen Anschlusssegmente geschützt und indirekt korrigiert werden. Zur Bewertung des Wachstumsfortschrittes wurden lange die Risser-Stadien als führendes Instrument definiert, das den Fortschritt der Verknöcherung von der Beckenkammapophyse beurteilt [15]. Daneben gibt es weitere radiologische <strong>VSAO</strong> /ASMAC Journal 5/20 35
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