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Monitoringbericht "Flüchten - Ankommen - Bleiben!?"

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Neue Gesetze an den Bedürfnissen

der Betroffenen vorbei

Unter der ÖVP-FPÖ-Regierung von 2017-2019 wurden allerdings

gerade oben genannte Kriterien weitreichend außer

Acht gelassen. 2017 wurde das Integrationsgesetz eingeführt,

welches das Absolvieren von Werte- und Sprachkursen für

Drittstaatsangehörige an den Zugang zu gewissen Dienstleistungen

oder Aufenthaltstiteln knüpfte. Des Weiteren wurde

die Konzeption und Durchführung von Prüfungen ausschließlich

dem Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF)

unterstellt, anstatt, wie zuvor, alle international anerkannten

Deutschzertifikate anzuerkennen. So müssen beispielsweise

Personen, die bereits ein ÖSD Deutschzertifikat haben, nun

noch zusätzlich eine ÖIF-Prüfung ablegen.

Diese Gesetzesänderung, insbesondere auch die darin enthaltenen

Wertekurse, stießen auf starke Kritik aus der Wissenschaft

und von Expert*innen. So wird im Gesetzestext

beispielsweise mehrfach Sprache mit Deutschkenntnissen

gleichgesetzt, was andeutet, dass Menschen aus Drittstaaten

keine Sprache(n) hätten. Ebenso verhält es sich mit den Werten:

Es wird impliziert, dass die besagte Personengruppe keine

oder die „falschen“ Werte hätte. Außerdem sei der in den

Wertekursen vermittelte Stoff verkürzt und beschönigend. 272

Sinnvoller findet es Wurzenrainer, in einem diskursiven Prozess

gemeinsam die Frage zu stellen, welche Werte wir gerne

hätten. Nun sollen hingegen in kürzester Zeit Werte vermitteln

werden, die mehr Aufschluss darüber geben, welche Bil-

der in Österreich von geflüchteten Menschen vorherrschen,

als tatsächlich den Integrationsprozess der Zielgruppe zu

fördern. 273

Massive Kritik an der

Monopolstellung des ÖIF

Darüber hinaus ist die Monopolisierung der Kurs- und

Prüfungszertifizierung beim ÖIF auf starke Kritik seitens

Expert*innen gestoßen. Insbesondere die Mehrfachrollen

des ÖIF als Prüfungsentwickler, Durchführer und Zertifizierer

werden als sehr problematisch erachtet, da diese nicht

miteinander kombiniert werden sollten. 274

Außerdem beschneidet die Einführung eines verpflichtend

umzusetzenden Curriculums die Möglichkeiten einer

teilnehmer*innen-orientierten Unterrichtsgestaltung stark.

Wurzenrainer kritisiert, dass die selbstformulierten Ziele

der Teilnehmenden, die auf ihre Lebenswelt zugeschnitten

sind, jetzt außer Acht gelassen werden: „Nun formulieren die

neuen Deskriptoren, welche Ziele zu erreichen sind und was

überhaupt als Ziel gilt, beziehungsweise was nicht als Ziel

gilt.“ 275

Ferner müssen seit September 2019 alle Lernenden laufend

mit vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und

Forschung (BMBWF) vorgegebenen Beobachtungsbögen mit

Kompetenzbeschreibungen evaluiert werden. Neben einem

administrativen Mehraufwand erschwert diese Maßnahme

insbesondere den bedürfnisorientierten Zugang, um an jenen

Inhalten zu arbeiten, die die Lernenden einbringen und

die für ihre individuelle Situation passend wären.

Die Kritik am Monopol des ÖIF-Deutschzertifikats hat sich

mit der Ankündigung des neuen Sozialhilfegesetzes 2018

nochmals intensiviert. Demnach hätten Menschen aus Drittstaaten,

die bisher Mindestsicherung bezogen haben, ein

B1-Deutsch-Zertifikat vom ÖIF vorweisen müssen, um weiterhin

vollen Anspruch auf die neue Sozialhilfe geltend machen

zu können. Stark kritisiert wurde insbesondere, dass

es nicht um die tatsächlichen Deutschkenntnisse geht, sondern

lediglich um das Ablegen einer Prüfung. Das Netzwerk

SprachenRechte beanstandet, dass den „Zugang zur Sozialhilfe

damit nur [hat], wer über ausreichende finanzielle

Mittel verfügt, dieses auch zu erlangen. Kursbesuche und

Sprachprüfungen brauchen Zeit und Geld. Berufstätigen

Menschen fehlt ersteres, Menschen in Notlage letzteres.“ 276

Ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) erklärte diese

Regelung im Dezember 2019 für verfassungswidrig, genauso

wie die Kürzung von Geldern für Familien mit mehreren

Kindern. Wie die neue Sozialhilfe nun in den jeweiligen Ländern

aussehen wird, ist zum Teil noch nicht klar. 277

Während geflüchteten Personen mehr Pflichten auferlegt

werden, sind Förderungsmaßnahmen, beispielsweise für

Deutschkurse, auf Bundesebene gekürzt oder gar ganz gestrichen

worden. Und dies deutlich schneller, als die Nach-

frage tatsächlich zurückgegangen ist. Wie eine Studie von

SOS Mitmensch zeigt, ist das Angebot an Deutschkursen in

gewissen Bundesländern unzureichend, in Niederösterreich

gar nicht erst vorhanden. Teils sind allerdings die Länder eingesprungen,

wie beispielsweise Tirol, um ein gutes Angebot

an Deutschkursen aufrecht zu erhalten. Auch die Stadt Wien

hat neue Kurse budgetiert und umgesetzt, um die größten

Lücken zu schließen, wie Wurzenrainer lobend hervorhebt. 278

Frühe Förderung der Deutschkenntnisse

anstatt Fixierung auf Deutsch-Zertifikate

Aleksandra Panek und Milica Tomic, Koordinatorinnen der

österreichweiten Anlaufstellen für Personen mit im Ausland

erworbenen Qualifikationen (AST) sehen den konstanten

Fokus auf Deutschzertifikate problematisch und für die Integration

in den Arbeitsmarkt nicht zielführend: „In der Praxis

zeigt sich sehr schnell, welche Deutschkenntnisse nötig

sind.“ Diese orientieren sich zumeist nicht an Zertifikaten,

sondern an der tatsächlichen Sprachpraxis. So ist insbesondere

die Kürzung der Förderung für das erst kürzlich eingeführte

Integrationsjahr, bei dem Geflüchtete via Arbeitsmarktservice

(AMS) mit passenden Bildungsmaßnahmen

auf den österreichischen Arbeitsmarkt vorbereitet wurden,

sehr bedauerlich. „Bildung kann nicht über Nacht passieren“,

so Panek. „Es fehlt an langfristigen und nachhaltigen

Lösungen.“ 279

272

Netzwerk SprachenRechte, Stellungnahme des Netzwerks Sprachenrechte,

2017; Bauböck et al, Zehn punkte für ein wirkungsvolles Inklusionsund

Integrationsgesetz, 2017.

273

Ghazarian/Wurzenrainer, Bildung und Arbeitsmarktintegration im Integrationshaus,

16.09.2019. (49:40)

274

Netzwerk SprachenRechte, Stellungnahme des Netzwerks Sprachenrechte,

2017.

275

Ghazarian/Wurzenrainer, Bildung und Arbeitsmarktintegration im Integrationshaus,

16.09.2019. (7:50)

276

Netzwerk SprachenRechte, Monopolisierung von Integrationsprüfungen

– Recht auf Sprachen statt Deutsch als Pflicht, 26.05.2019.

277

Nimmervoll, Verfassungsgericht kippt türkis-blaue Sozialhilfereform, der

Standard, 17.12.2019.

278

SOS Mitmensch, Zugang zu Deutschkursen für Asylsuchende – Ein

Bundesländervergleich Recherche von SOS Mitmensch für den Zeitraum

Oktober bis Dezember 2019, 01.2020; Ghazarian/Wurzenrainer, Bildung

und Arbeitsmarktintegration im Integrationshaus, 16.09.2019. (27:00)

279

Tomic/Panek, Arbeitsmarktintegration und Anerkennung im Ausland

erworbener Qualifikationen in Österreich - Perspektiven von AST,

24.09.2019. (13:50)

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