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Monitoringbericht "Flüchten - Ankommen - Bleiben!?"

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Bosnien und Herzegowina sowie Serbien

Ende Februar 2020 sind laut UNHCR 7.128 Menschen

in Bosnien und Herzegowina und 6.959

Personen in Serbien gestrandet. Ende April 2020

ist die Zahl in beiden Ländern auf über 9.000

angestiegen. UNHCR geht von einer Zunahme

von Push-Backs seit dem Ausbruch der COVID-

19-Pandemie aus. 72

Mit EU-Finanzierung sind in diesen Gebieten staatliche

Lager errichtet worden. Allerdings sind die Lebensbedingungen

dort so schlecht, dass viele Menschen es vorziehen,

außerhalb in Zelten oder in verlassenen Häusern unter zu

kommen, möglichst nahe der Grenze. Denn trotz der Gewalt,

die ihnen zugefügt wird, versuchen die Menschen wieder

und wieder, die Grenze zu überqueren und an einen Ort

zu gelangen, wo sie einen Asylantrag stellen und ein faires

Verfahren durchlaufen können. „The Game“ wird dieses gefährliche

„Spiel“ mit der kroatischen Polizei von den Flüchtenden

zynisch genannt. Eine andere Möglichkeit bleibt den

Menschen nicht.

Das Lager Vučjak neben der Stadt Bihać im nördlichen Zipfel

von Bosnien und Herzegowina, das auf einer alten Mülldeponie

errichtet worden ist, ist wegen seiner miserablen Bedingungen

2019 stark in Kritik geraten – sowohl im Sommer,

wo unzureichend Wasser und Nahrung zur Verfügung gestellt

wurden, wie auch im Winter, als die ungeheizten Zelte

im Schnee und giftigem Schlamm der ehemaligen Mülldeponie

versanken. Es gab im Camp auch keine medizinische

Versorgung, obwohl viele Menschen, die mit Verletzungen

aus Kroatien zurückkehrt waren, dringend entsprechende

Behandlung gebraucht hätten. Lediglich Freiwillige und

NGO-Mitarbeiter*innen versorgten die Menschen außerhalb

des Lagers. Im Dezember 2019 wurde Vučjak schließlich geschlossen.

Verbessert hat sich die Situation vor Ort dadurch

allerdings nicht.

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie wurden die

Menschen von der Polizei teils unter Zwang in den Lagern

eingeschlossen und freiwilligen Unterstützer*innen und

NGOs der Zugang dazu verwehrt. Darüber hinaus gab es vermehrt

Berichte über Deportationen und Polizeigewalt gegen

Schutzsuchende in diesen Lagern. Der Stillstand von grenzüberschreitendem

Verkehr in ganz Europa hat auch die irreguläreren

Grenzübertritte erschwert. Gleichzeitig wurden

Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie dazu benutzt,

die Grundrechte dieser Menschen weiter auszuhöhlen. So ist

Bleiben für die Menschen auf der Balkanroute erst recht keine

Option. Viele versuchen nach wie vor, weiter zu kommen

und werden mit brutaler Gewalt daran gehindert. 73

Der EU-Türkei-Deal

Der EU-Türkei-Deal vom März 2016 ist ein weiteres Beispiel

von Externalisierung: Der Deal beinhaltete eine Zahlung von

rund 6 Milliarden Euro an die Türkei, im Gegenzug verschärfte

die Türkei die Kontrolle der Küste sowie der Landgrenze zu

Griechenland und Bulgarien und verhinderte, dass flüchtende

Menschen mit Booten über die Ägäis oder den Grenzfluss

Evros an Land gehen konnten. Der Deal hatte visafreie Reisen

in die EU für türkische Staatsbürger*innen in Aussicht

gestellt, was von der EU allerdings bald wieder verworfen

worden war. Angestrebt wurde zudem die sogenannte 1:1-Regelung,

welche vorsah, dass Menschen, die „irregulär“ auf

den griechischen Inseln ankommen, in die Türkei zurückgebracht

werden. Für jede Person aus Syrien, die zurückgebracht

wird, sollte dann ein*e Syrer*in regulär in die EU

umgesiedelt werden. Dieser Teil des Deals funktionierte allerdings

nicht, da er im Widerspruch zum Recht auf Prüfung

eines Asylantrags und zum Refoulement-Verbot steht, sowie

seitens der EU-Staaten mangelnde Aufnahmebereitschaft

vorhanden war. Dennoch wurden zahlreiche Menschen in

die Türkei zurückgebracht, davon viele zu Unrecht. Die Türkei

musste dafür von Griechenland als sicherer Drittstaat

bewertet werden, obwohl die Türkei die Kriterien hierfür

nicht erfüllt: Einerseits hat die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention

nur mit Einschränkung ratifiziert, andererseits

schiebt die Türkei systematisch Menschen in ihre Herkunftsstaaten

zurück und verstößt damit gegen das Refoulement-

Verbot. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten

beispielsweise die illegale Abschiebung von Geflüchteten aus

der Türkei nach Syrien sowie nach Afghanistan.

Während zahlreiche Regierungschefs der EU den Deal als

Erfolg lobten, kritisierten ECRE sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche

Akteur*innen, NGOs, Expert*innen und

Politiker*innen den Deal als widerrechtlich und unmenschlich

und warnten vor den langfristigen humanitären Konsequenzen.

74

Der Deal wurde auf dem Rücken von rund

3,6 Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei

gemacht. Sie machen derzeit circa 4 Prozent

der Bevölkerung in der Türkei aus.

Dies bedeutet eine enorme Belastung für das Land. Auch

wenn es von Seiten der türkischen Zivilbevölkerung Unterstützung

und Solidarität gibt, ist – wie auch in Europa – eine

Zunahme von rassistisch motivierten Diskriminierungen

gegenüber syrischen Geflüchteten zu verzeichnen. Zahlreiche

Menschen aus Syrien haben sich inzwischen zwar eine

Existenz in der Türkei aufgebaut, doch das unsichere politische

Klima und die prekäre wirtschaftliche Situation erschweren

das Leben erheblich. Auch die Türkei ist hart von

der COVID-19-Pandemie getroffen worden, was langfristig

weitere ökonomische Probleme mit sich bringen wird, ganz

zu schweigen von dem Risiko, dem unzählige vulnerable

schutzsuchende Menschen ausgesetzt sind, die nicht ausreichend

medizinisch versorgt werden können. 75

72

UNHCR Statistics, Situation Western Balkans, 05.03.2020.

<https://data2.unhcr.org/en/situations/westbalkans>; UNHCR, COVID19

Special Report Bosnia and Herzegovina, 13.05.2020.

73

Tondo, ‘Blood on the ground’ at Croatia’s borders as brutal policing persists,

The Guardian, 22.12.2019; Davies/Obradovic-Wochnik/Isakjee, On the

edge of Europe, a refugee camp where violence and filth lay bare the EU’s

legacy, The Independent, 01.08.2019; AP, Bosnia to Probe Alleged Police

Brutality in Migrant Camp, The New York Times, 22.05.2020; ORF, Verbot

für Flüchtlings-NGOs in Bosnien, 20.05.2020; Border Violence Monitoring

Network, Special Report: COVID-19 and Border Violence along the Balkan

Route, 12.05.2020.

74

PRO ASYL, Der EU-Türkei-Deal und seine Folgen: Wie Flüchtlingen das

Recht auf Schutz genommen wird., 05.2016; Amnesty International, Sent to

a War Zone: Turkey’s Illegal Deportations of Syrian Refugees, 2019; Human

Rights Watch, Turkey Forcibly Returning Syrians to Danger, 26.07.2019;

ECRE, EU-Turkey deal: praised by EU leaders, condemned by NGOs,

28.04.2016.

75

Leghtas, Insecure Future: Deportations and Lack of Legal Work for

Refugees in Turkey, 09.2019.

54 55

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