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Monitoringbericht "Flüchten - Ankommen - Bleiben!?"

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Anfang März kam es in der Ägäis zu einem vermehrten Verkehr

von Booten mit Flüchtenden aus der Türkei in Richtung

griechische Inseln. Gleichermaßen häuften sich auch dort

die Berichte über Push-Backs und Versuche der griechischen

Küstenwache, die Boote mit Gewalt zurück in die Türkei zu

drängen. 81

Darüber hinaus zogen rechtsradikale Mobs über die Insel

Lesbos und verhinderten das Anlegen von Booten mit

Schutzsuchenden und attackierten Geflüchtete sowie

Unterstützer*innen, Journalist*innen und solidarische

Bewohner*innen gewalttätig. Zahlreiche Journalist*innen

berichteten von organisierten Überfällen auf der Insel. Zudem

wurden Einrichtungen von Hilfsorganisationen niedergebrannt.

82

Die griechische Regierung reagierte daraufhin mit der Verabschiedung

eines Notstandsgesetzes, das die Aussetzung

des Rechts auf Asyl für alle neu ankommenden Menschen ab

dem 1. März 2020 vorsah. Ungefähr 500 Schutzsuchende, die

nach dem 1. März angekommen waren – darunter viele Kinder

– wurden daraufhin auf einem Kriegsschiff eingesperrt.

Sie sollten ohne das Recht auf einen Asylantrag zurück in

ihre Herkunftsländer oder in die Türkei gebracht werden.

Dieses unmenschliche und rechtswidrige Verfahren konnte

glücklicherweise verhindert werden. Allerdings haben Berichte

von NGOs über Push-Backs der griechischen Polizei

und der Küstenwache zurück in die Türkei zugenommen.

Auch aus offiziellen Camps sollen Menschen, die sich schon

länger auf griechischem Territorium befunden haben, ille-

gal in die Türkei abgeschoben worden sein. Griechenland

entzieht sich damit seiner internationalen Verantwortung,

verstößt gegen das Refoulement-Verbot und gefährdet zahlreiche

Menschenleben. 83

Durch den EU-Türkei-Deal wurde dem türkischen Präsidenten

Erdoğan ein Erpressungsinstrument in die Hände gelegt,

das auch aus dem europäischen Parlament als „nicht hinnehmbar“

kritisiert wurde. 84 Der türkische Machthaber hatte

bereits mit dem Angriffskrieg in Nordsyrien gezeigt, dass er

sich dies zu Nutzen machen würde. 85

Noch deutlicher zeigte es eben jene einseitige „Grenzöffnung“

Ende Februar 2020. ECRE Direktorin Catherine Woollard

bezeichnete dies als den Höhepunkt der Versuche der

Türkei, die aufgenommenen Flüchtlinge als Druckmittel zu

benutzen, um Unterstützung der EU und der NATO für die

Aktionen in Syrien zu erhalten. Die europäische Reaktion darauf

wurde von ECRE scharf kritisiert: „Europa verfügt über

die Mittel für gemeinsame Nothilfeaktionen, die menschlich

bleiben: Es gibt keine Ausrede für Panik, und Panik ist

keine Ausrede für Repression an den Grenzen. Flüchtlinge,

die Schutz suchen, sollten nicht mit harten militärischen

Taktiken und Formulierungen als Sicherheitsbedrohung behandelt

werden. Wir sind alarmiert über die hysterische und

unangemessene Sprache der politischen Verantwortlichen:

Dies ist kein Krieg; dies ist keine Invasion.“ 86

Die COVID-19-Pandemie:

Keine Entspannung in Sicht

Die COVID-19-Pandemie führte erstmal dazu, dass weniger

Menschen versuchten, die Grenze nach Griechenland zu

überqueren. Allerdings ist die Situation an der griechischtürkischen

Grenze nach wie vor angespannt. Woollard warnt

davor, dass ein erneuter EU-Türkei-Deal die Situation von

Syrien bis Griechenland auf vielen Ebenen sowohl kurz- als

auch langfristig nur noch verschlimmern wird. 87

Die türkischen Deportationen von Geflüchteten nach Syrien,

aber auch nach Afghanistan, führen dazu, dass sich flüchtende

Menschen in der Türkei nicht mehr sicher fühlen. Hinzu

kommen politische Dissident*innen aus der Türkei, die

aufgrund der zunehmenden Repression das Land verlassen

müssen. Bereits im September 2019 hatte sich die Zahl der

neu Ankommenden in Griechenland erstmals seit 2016 wieder

auf über 10.000 Menschen im Monat erhöht. Auch die Eskalation

der Situation in Idlib im Nordosten Syriens führte zu

zusätzlichem Druck auf die Türkei und die gut 3,6 Millionen

Geflüchteten dort. 88

Gleichzeitig ist in den umliegenden Ländern einiges in Bewegung:

Proteste in Iran, Irak, Libanon, Algerien und Sudan

reißen trotz der blutigen Gewalt, die ihnen von den Regimen

entgegengebracht wird, sowie der Auswirkungen der COVID-

19-Pandemie nicht ab. Auch wenn dies Hoffnungsfunken für

nachhaltige und demokratische Veränderungen in diesen

krisengeschüttelten Staaten sind, ist absehbar, dass sich erneut

Menschen auf den Weg machen werden müssen.

Die düsteren Wirtschaftsprognosen sowie die aktuellen Auswirkungen

aufgrund der COVID-19-Pandemie tragen vielerorts

zusätzlich dazu bei, dass sich Konflikte, soziale Ungleichheiten

und Ressourcenknappheit weiter verschärfen. Es ist

davon auszugehen, dass dies zu einer Zunahme von Migration

führen wird. Menschen, die vor Krieg und Verfolgung,

Hunger und Perspektivlosigkeit fliehen, riskieren ihr Leben,

um an einen Ort zu gelangen, an dem sie in Sicherheit und

Würde leben können. Möchte Europa eine nachhaltige und

menschliche Lösung finden, muss es einen klaren Kurswechsel

geben. Militarisierung und Abschottung führen zu einem

Zyklus aus immer mehr Leid und immer mehr Toten. ECRE

fordert deshalb einen integrativen Wandel der EU-Migrationspolitik,

der auf der Achtung der Menschenrechte basiert,

Schutzsuchenden Zugang zu einem fairen Asylverfahren ermöglicht

sowie eine solidarische Verteilung von Verantwortlichkeiten

innerhalb der EU forciert. 89

81

Daragahi, Coastguard seen attacking refugee boat with stick, as child

drowns off Greece, The Independent, 02.03.2020.

82

Grillmeier, Flüchtlinge auf Lesbos: Eine Insel vollkommen außer Kontrolle,

der Standard, 02.03.2020; Bormann, Rechte Schlägertrupps vertreiben

Flüchtlingshelfer auf Lesbos, ARD, tagesschau.de, 04.03.2020.

83

Border Violence Monitoring Network, Documented Pushbacks from

Centres on the Greek Mainland, 05.05.2020; ECRE, Greece: Still no Access

to Asylum, Second Camp Quarantined, First Relocations Ahead, Push Backs

to Turkey, 10.04.2020.

84

Europäisches Parlament, Parlament fordert Sanktionen gegen die Türkei

wegen Syrien-Feldzug, 24.10.2019.

85

Stuchlik, Gutachten zu Türkei-Offensive: Im Widerspruch zum Völkerrecht,

ARD, tagesschau.de, 20.10.2019.

87

Woollard, Weekly Editorial: Lessons from Turkey for a wannabe geopolitical

player, ECRE, 20.03.2020.

88

medico international, Von Idlib bis Lesbos - Flüchtlinge als Spielball,

03.03.2020; UNHCR Statistics, Mediterranean Situation, Greece,

04.03.2020. <https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean/location/5179>.

89

Dabashi, Are the Arab revolutions back?, Al Jazeera, 26.11.2019; Salloum,

Syrien, Irak, Afghanistan: Warum mehr Menschen nach Europa fliehen, Spiegel

Online, 12.10.2019; Woollard, Weekly Editorial: A Pact for an Inclusive

Recovery?, ECRE, 08.05.2020.

58

86

ECRE, Statement on the Situation at the Greek Turkish Border, 03.2020.

59

(aus dem Englischen von A. Homberger).

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