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Monitoringbericht "Flüchten - Ankommen - Bleiben!?"

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Gesellschaftliches Klima

Polarisierende Debatten

um Flucht und Migration

Es gibt kaum Themen, die seit Jahren so heiß diskutiert werden

und die Gesellschaft so sehr polarisieren wie Migration,

Flucht und Asyl, sowohl in Europa, wie auch in zahlreichen

anderen Staaten der Welt. Insbesondere seit dem „Sommer

der Migration“ 2015 hat sich diese Entwicklung in der EU

rasch und sehr drastisch zugespitzt. Mit dem wahltaktischen

Argument, „illegale Migranten“ zu stoppen und den jeweiligen

Nationalstaat zu schützen, haben Rechtspopulist*innen

und ihre Parteien quer durch Europa Wahlen gewonnen:

vom Brexit in England zur Machtfestigung Viktor Orbáns in

Ungarn, zu den Wahlerfolgen der AfD in Deutschland oder

Mateo Salvinis Partei Lega in Italien bis hin zum österreichischen

Kanzler Sebastian Kurz, der sich mit der „Schließung

der Balkanroute“ brüstete und damit ins Kanzleramt gewählt

wurde. Sie alle haben ihre Erfolge mitunter sehr stark dem

Narrativ zu verdanken, den Nationalstaat und seine vermeintlich

homogene Bevölkerung vor Migrant*innen zu

schützen, die das Land, seine Bevölkerung und den Sozialstaat

angeblich bedrohen. Die Narrative sind jeweils mit na-

tionalen Besonderheiten gespickt, allerdings weit entfernt

von den gesellschaftlichen Realitäten. Vielmehr werden diffuse

und oft widersprüchliche Ängste geschürt.

Gemessen an der Bevölkerungszahl Europas ist

der Anteil an geflüchteten oder migrierten Menschen

nach wie vor sehr gering. Geflüchtete machen

lediglich etwas mehr als ein halbes Prozent

der europäischen Gesamtbevölkerung aus.

Umfragen zeigen aber, dass der Anteil an Migrant*innen und

Geflüchteten in den meisten EU-Ländern auf mehr als doppelt

so hoch geschätzt wird, als er tatsächlich ist. Die Befragten

neigen demnach dazu, die Zahl der Nicht-EU-Personen

in ihrem Land massiv zu überschätzen. Diskurse über Geflüchtete

oder Migrant*innen haben also oft wenig mit realen

„Problemen“ oder einer sinnvollen Auseinandersetzung

zu tun, sondern werden vielmehr für politische Interessen

instrumentalisiert. 163

Dies war aber nicht die einzige Reaktion auf die Migrationsbewegungen

von 2015/2016. Mit der „Willkommenskultur“

haben sich auch gegenläufige gesellschaftspolitische Reaktionen

in ganz Europa manifestiert. Diese erstarkte Solidari-

tätsbewegung hat Tausende von Menschen dazu motiviert,

die neu Ankommenden willkommen zu heißen und auf vielfältigste

Weisen Unterstützungsarbeit zu leisten. Es zeichnet

sich seither eine massive Spaltung der Gesellschaft ab: Ein

Teil setzt sich für Pluralität und Menschenrechte ein, der andere

bedient sich eines nationalistischen Diskurses und plädiert

für mehr Grenzschutz und Abschottung.

Die Migrationsbewegungen von 2015 haben die gegenwärtige

nationalistische Konjunktur beschleunigt, welche den Weg

für autoritäre Tendenzen ebnete. Die Gründe dafür sind allerdings

nicht Migration oder schutzsuchende Menschen,

sondern das Scheitern der europäischen Migrationspolitik

und deren mangelnde Fähigkeit, die ankommenden Menschen

auf egalitäre Weise in den Aufnahmeländern zu integrieren.

Dadurch wird rechtsextremen Diskursen in die Hände

gespielt und rassistische Ressentiments geschürt. 164

Sichtbarkeit von Ungleichheiten

durch COVID-19

Der Ausnahmezustand, ausgelöst durch die COVID-19-Pandemie,

hat darüber hinaus Entwicklungen möglich gemacht,

die unter normalen Bedingungen nicht denkbar gewesen

wären. Dies im Positiven, wie auch im Negativen. Es gab teils

Ausweitungen des Zugangs zum Gesundheitssystem für migrantische

Personen, Entlassungen aus der Schubhaft sowie

das kurzzeitige Aussetzen von Abschiebungen. Gleichzeitig

kommt es zu massiven Einschnitten in diverse Grund

rechte: Ausgangssperren wurden verhängt, die Bewegungsfreiheit

massiv eingeschränkt und offene Lager wiederholt

geschlossen. Die Pandemie diente in verschiedenen Fällen

als Vorwand für die Einführung asylfeindlicher oder sogar

antidemokratischer Maßnahmen – getarnt als Migrationskontrolle.

Besonders besorgniserregend waren die Beschränkungen

des Zugangs zu Asylverfahren und des Zugangs zum

Territorium an den Land- und Seegrenzen mit schwerwiegenden

Verstößen gegen See- und Menschenrecht und zahlreichen

Ertrunkenen im Mittelmeer. In Österreich wurde

über das Aussetzen des Asylrechts diskutiert, wenn schutzsuchende

Menschen kein Gesundheitszeugnis vorweisen können.

Gleichzeitig ist die Zahl von neu ankommenden Menschen

massiv zurückgegangen. 165

163

UNHCR, Mid-Year Trends 2019, 10.03.2020. FRA, Beyond the peak:

164

Bojadžijev, Migration as Social Seismograph: an Analysis of Germany’s

165

Mezzadra/Stierl, What happens to freedom of movement during a

annual review, 2019.

„Refugee Crisis“ Controversy, International Journal of Politics, Culture, and pandemic?, openDemocracy, 24.03.2020; Brickner, Klarstellung zu Defacto-Einreisestopp

Society, 2020.

für Asylwerber lässt auf sich warten, der Standard,

29.03.2020.

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