10.11.2020 Aufrufe

Monitoringbericht "Flüchten - Ankommen - Bleiben!?"

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ankommen ist

nicht gleich Angekommen

Asyl-Lotterie in der EU

Wo schutzsuchende Menschen in Europa ankommen, welcher

Staat schlussendlich für sie zuständig ist, wie die Chancen

auf ein faires Asylverfahren stehen und wie sich die Lebensbedingungen

für geflüchtete Menschen gestalten, wird

zu Recht als Lotterie bezeichnet. Die EU-Mitgliedstaaten

verfügen über kein vereinheitlichtes Asylsystem. Es gibt gravierende

Unterschiede zwischen den EU-Staaten auf allen

Ebenen: in der Rechtsprechung, was Unterbringung, Leistungsansprüche,

Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt, wie

auch was Schutz vor Diskriminierung während und nach

dem Asylverfahren angeht. Die Entscheidungen, wem welcher

Schutzstatus zuerkannt – oder eben nicht zuerkannt

– wird und welche Rechte und Pflichten damit einhergehen,

divergieren sehr stark von Staat zu Staat, aber auch

innerstaatlich. Kritik an Entscheidungsverfahren gibt es in

mehrfacher Hinsicht: beispielsweise aufgrund des Einsatzes

von nicht ausreichend geschulten Beamt*innen, Entscheidungen

aufgrund des Herkunftsstaates anstatt der individuellen

Fluchtgründe, Einsatz von voreingenommenen

Dolmetscher*innen, Anwendung fragwürdiger Altersfeststellungsverfahren

sowie Mangel an rechtlichem Beistand,

lange Wartezeiten und kurze Beschwerdefristen. Dabei

müssen die geflüchteten Personen glaubhaft machen, dass

ihnen im Herkunftsland Verfolgung droht. Ob eine Lebensgeschichte,

beziehungsweise die Verfolgung, als glaubwürdig

oder unglaubwürdig eingestuft wird, liegt im Ermessen der

entscheidenden Behörde. So kann es gut sein, dass einer Person

in einem EU-Staat Asyl gewährt würde, in einem anderen

aber nicht. Dies lässt sich anhand von Asylsuchenden aus Afghanistan

gut darstellen:

Geflüchtete aus Afghanistan hatten 2018 in Italien

eine erstinstanzliche Anerkennungsquote von 98

Prozent, in Deutschland und Österreich von circa

50 Prozent, in Schweden von nur 32 Prozent und

in Bulgarien von lediglich 7 Prozent. 103

Trend zu restriktiver Asylpolitik

Missstände in puncto Asylverfahren gibt es in allen europäischen

Staaten. Seit Jahren finden in vielen Staaten laufend

Gesetzesänderungen, Reformen und Veränderungen in der

Praxis der Rechtsprechung im Asylbereich statt. Dies wäre

eigentlich zu begrüßen, leider trägt das politische Klima in

Europa zurzeit aber dazu bei, dass die meisten Neuerungen

nicht im Interesse der schutzsuchenden Menschen geschehen,

sondern sich hin zu Abwehr, Abschottung und Rückführung

bewegen. Die Agentur der europäischen Union für Grundrechte

(FRA) hält in ihrem Jahresrückblick 2018 fest, dass sich

der Trend zur Einführung und Umsetzung einer restriktiven

Asylpolitik und -praxis in vielen EU-Mitgliedsstaaten fortgesetzt

hat. Dabei beobachtete die FRA vor allem einen

Anstieg an Zugangshürden zu Asylverfahren und Schutzstatus,

eine Reduktion von Rechten und Leistungen für

Asylwerber*innen und Personen mit internationalem

Schutzstatus sowie den verstärkten Gebrauch von Abschiebehaft

und die Durchsetzung von Rückkehrmaßnahmen.

Dieser Trend ist schon länger zu beobachten. Seit der Migrationsbewegung

2015/2016 gibt es allerdings eine weitere

Zuspitzung: So haben beispielsweise zahlreiche EU-Staaten,

darunter auch Österreich, bis im Jahr 2015 Aufenthaltsgenehmigungen

für Geflüchtete für zehn bzw. fünf Jahre ausgestellt,

nun aber auf das Minimum von drei Jahren verkürzt. 104

Auch bei den Wartezeiten auf den Beginn des Asylverfahrens

gibt es sehr große Unterschiede. Kaum ein Land hält dabei

die gesetzlich vorgesehenen sechs Monate ein. Laut einer

Studie der Asylum Information Database (AIDA) von 2019

dauern Entscheide in den Ländern mit vielen Ankünften

zumindest eineinhalb Jahre, mancherorts aber auch weitaus

länger. Die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

der Antragsteller*innen, erhebliche Kosten des langen Aufenthalts

in staatlichen Unterkünften sowie ein Mangel an

Plätzen für neu Ankommende sind nur einige der negativen

Effekte, die ein langes Verfahren mit sich bringt. 105

Die Dublin-III-Verordnung:

dysfunktional und unsolidarisch

Bevor Schutzsuchende zum Asylverfahren in einem Land in

Europa zugelassen werden, wird geprüft, ob nach der Dublin-

III-Verordnung ein anderer EU-Staat, die Schweiz, Norwegen,

Island oder Lichtenstein zuständig ist. Die Dublin-III-Verordnung

besagt, dass geflüchtete Menschen in der Regel in dem

Land, in dem sie zuerst ankommen, ihren Asylantrag stellen

müssen. Dies führt zu einer extrem ungleichen Verteilung

von Geflüchteten im europäischen Raum. Diejenigen EU-

Länder, die an Grenzen zu Drittstaaten oder am südlichen

Mittelmeer liegen, sind primäre Ankunftsländer. Sie sind daher

für den größten Teil der Menschen, die in der EU ankommen,

verantwortlich. Dieses Ungleichgewicht wird weiter

durch eine wirtschaftliche Ungleichheit zwischen südlichen

und nördlichen EU-Staaten verstärkt. Die südlichen Erstankunftsländer

tragen die Hauptlast, sind gleichzeitig aber

oft wirtschaftlich schwächer als nordeuropäische Länder.

Dies erschwert die menschenwürdige Unterbringung und

Betreuung von ankommenden Geflüchteten sowie ein rasches

und gut funktionierendes Asylsystem erheblich. Wenn

es direkte Familienangehörige in einem anderen EU-Staat

gibt, so fällt die Verantwortung an dieses Land. Aber auch

hinsichtlich der Familienzusammenführung unter der Dublin-III-Verordnung

gibt es fortlaufend Verzögerungen und

Komplikationen. 106

103

ECRE, To Dublin or not to Dublin?, 2018; ECRE, Protected across Borders:

104

FRA, Beyond the peak: annual review, 2019. S.19

106

AIDA, The Dublin system in the First Half of 2019: Key Figures from

68

Mutual Recognition of Asylum decisions in the EU, 2016; AIDA, Regular

105

AIDA, Housing out of reach? The reception of refugees and asylum Selected European Countries, 2019.

69

procedure - Austria, 2019.

seekers in Europe, 04.2019. S.10

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!