altlandkreis - Das Magazin für den westlichen Pfaffenwinkel - Ausgabe Januar/Februar 2022
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historischer Tracht gekleidet, originelle<br />
Flechtfrisur und silberne<br />
Miederkette inklusive.<br />
Spalierstehen und<br />
Münzenwerfen<br />
Wenige Meter weiter wartete bereits<br />
Kutscher Günter Ortner mit<br />
Landauer und zwei prächtigen,<br />
davor gespannten Rappen auf<br />
das Brautpaar. „Einmal König und<br />
Königin sein“, schwelgt Corina<br />
Krippel, unter anderem gelernte<br />
Pferdewirtschafts-Meisterin und<br />
insofern ein Riesenfan von der<br />
Kutscherkunst nach Achenbach.<br />
Erst wurde das Brautpaar zu Michis<br />
im Rollstuhl sitzender Großmutter<br />
gefahren, hatten ihr damit<br />
eine Riesenfreude bereitet. Anschließend<br />
ging’s zum Gasthaus<br />
Westner, Weißwurstfrühstück,<br />
wo bereits alle 180 Hochzeitsgäste<br />
inklusive Aidling-Riegseeer<br />
Musikkapelle warteten, und das<br />
Brautpaar mit einem feierlichen<br />
Marsch in Empfang nahm. Besonders<br />
bewegend: Als die Mütter von<br />
Michi und Corina sie im Rahmen<br />
einer Ansprache „freigegeben“<br />
haben in ihr neues, eigenes Familienleben.<br />
Nach frischgezapftem<br />
Weißbier, Weißwurst, süßem<br />
Senf und knuspriger Breze ging’s<br />
erneut im Landauer weiter zur<br />
örtlichen Sankt-Stephanus-Kirche,<br />
in der die kirchliche Trauung der<br />
bei<strong>den</strong> stattgefun<strong>den</strong> hat. Und<br />
beim Zurückerinnern noch heute<br />
Gänsehaut-Feeling erzeugt bei<br />
<strong>den</strong> Krippels. Unter anderem dank<br />
„boarischm Zwoagsang“, musikalisch<br />
begleitet von Harfe und<br />
Zither. Als die bei<strong>den</strong> nach dem<br />
unter die Haut gehen<strong>den</strong> Gottesdienst<br />
aus der Kirche schritten,<br />
stan<strong>den</strong> die Trommler Spalier,<br />
sowie zahlreiche Dorfkinder im<br />
Halbkreis, um eine Art Wegsperre<br />
zu bil<strong>den</strong>. „Bei uns im Dorf wer<strong>den</strong><br />
nach einer Hochzeitmesse<br />
traditionell Münzen geworfen.“<br />
Auch Michael und Corina kamen<br />
um diesen alten Brauch nicht<br />
herum, um sich <strong>den</strong> Weiterweg<br />
mehr oder weniger freizukaufen.<br />
Danach ging’s erneut mit Kutsche<br />
sowie der hinterhermarschieren<strong>den</strong><br />
Hochzeitsgesellschaft, Blaskapelle<br />
und dem Trommlerzug in<br />
Richtung Haus des Gastes, in dessen<br />
Saal im Erdgeschoss nun die<br />
eigentliche Hochzeitsfeier Fahrt<br />
aufnahm. Davor allerdings hatte<br />
Michi seinen Ehering an die linke<br />
Hand genommen, Corina ihren<br />
sogar ab. „Ein gutgemeinter Rat<br />
vom Hochzeitslader.“ Hintergrund:<br />
Bei 180 Gratulanten, darunter eine<br />
ganze Reihe Männer mit kräftigen<br />
Pratzen, wäre das eine schmerzhafte<br />
Angelegenheit im Ringfinger-Bereich<br />
gewor<strong>den</strong>.<br />
Sonderlob <strong>für</strong><br />
Hochzeitslader<br />
Angefangen mit dem traditionellen<br />
Hochzeitswalzer, gefolgt vom<br />
Walzer mit Trauzeugen, Kranzlerpaar<br />
(ledige Frau und lediger<br />
Mann, die neben dem Hochzeitslader<br />
<strong>für</strong> Stimmung und Ordnung<br />
im Rahmen des Hochzeitstages<br />
sorgen und <strong>den</strong> Gästen ein kleines<br />
Gesteck an Hemd und Bluse<br />
anbringen) und Eltern des Brautpaars,<br />
wiederum gefolgt vom Walzertanzen<br />
mit allen Gästen, die<br />
Lust darauf hatten. Zu Essen gab’s,<br />
klassisch Bayerisch: Vorspeisensalat,<br />
Schweinsbraten mit Knödel<br />
und Kraut sowie Rinderbraten mit<br />
Spätzle. Nachmittags verdammt<br />
viele, von <strong>den</strong> Hochzeitsgästen<br />
selbstgemachte Kuchen. Darunter<br />
auch ein Campingtisch-großer<br />
Erdbeerkuchen in Herzform – die<br />
Hochzeitstorte. „Brutal, wie viele<br />
Mühe sich alle <strong>für</strong> uns gemacht<br />
haben“, sind Michael und Corina<br />
noch heute gleichermaßen dankbar<br />
wie überwältigt. Wobei letzteres<br />
auch schon vor der Hochzeit<br />
der Fall war. „Es gab natürlich viel<br />
zu organisieren im Vorfeld, aber<br />
weil nahezu alle eingela<strong>den</strong>en<br />
Gäste von sich aus angepackt und<br />
Dinge in die eigene Hand genommen<br />
haben, war es <strong>für</strong> uns wesentlich<br />
entspannter als zunächst<br />
gedacht.“ Sonderlob müssen die<br />
bei<strong>den</strong> an dieser Stelle nochmals<br />
an Hochzeitslader Martin Bergmeister<br />
aussprechen, der alle potentiellen<br />
Unannehmlichkeiten am<br />
Tag der Hochzeit „derart klug und<br />
geschickt von uns weggehalten<br />
hat, dass wir uns um wirklich gar<br />
nichts kümmern brauchten und<br />
<strong>den</strong> Tag voll und ganz genießen<br />
konnten“. Selbst dann, als Tochter<br />
Fritzi mit ihren schicken, frischpolierten<br />
Trachten-Pumps versehentlich<br />
in einen Hundehaufen<br />
getreten war, was Michael Krippel<br />
gesehen hatte, intuitiv zur Hilfe eilen<br />
wollte, aber nicht musste, weil<br />
ihm andere sofort zuvorgekommen<br />
sind – und ihn davon abhielten.<br />
Letztlich wurde verdammt viel<br />
geratscht, gelacht und getanzt im<br />
gut gefüllten Festsaal. Zumindest<br />
so lange, bis Bräutigam Michi<br />
plötzlich bemerkte, dass seine<br />
Braut Corina verschwun<strong>den</strong> war.<br />
<strong>Das</strong> „Brautverziagn“, in diesem<br />
Falle in einen Stadel außerhalb<br />
des Ortes, ist fester Bestandteil einer<br />
bayerischen Bauernhochzeit.<br />
Mit Hexenbesen und Laterne<br />
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