Aufsätze - GWDG
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Michael Thimann und Iris Wenderholm<br />
warnt hatte, erschlägt Kain kaltblütig seinen Bruder. Bendemann hat den schönen, aber leblosen<br />
Körper Abels mit ausgestreckten Gliedmaßen in der Bildmitte platziert. Kain verläßt mit der Keule<br />
als Mordwaffe – das Gesicht, möglicherweise auch das Kainsmal, mit dem linken Arm verbergend<br />
– fluchtartig das Geschehen. Jahwe, frontal in der Himmelszone thronend, straft Kain und schickt<br />
ihn mit ausgreifender Geste der linken Hand in die ewige Verbannung, gleichsam die Worte der<br />
Bibel bedeutend: „Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders<br />
Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen<br />
Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“ 54 Der thronenden Figur hat Bendemann<br />
aber auch ein Buch in die rechte Hand gegeben, auf dem die Worte „Selig die reinen Herzens<br />
sind“ eingetragen sind. Es handelt sich dabei um den Beginn des berühmten Christuswortes<br />
aus der Bergpredigt: „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ (Matthäus<br />
5, 8). Hier hat der Maler schon einen deutlichen Hinweis gegeben, dass nicht allein der strenge Jahwe<br />
des Alten Testaments, sondern auch der gnädige Gottvater des Neuen Testaments Gegenstand<br />
seines Gemäldes ist. Es ist der fluchende Jahwe, der hier eine christliche Botschaft offenbart!<br />
Auf der linken Bildhälfte sind die Eltern Adam und Eva zu sehen, die um ihren toten Sohn<br />
trauern. Eva mit entblößtem Oberkörper reißt die Arme wie ein Klageweib pathetisch empor, während<br />
Adam seinen Schmerz mit dem Antlitz in den Händen verbirgt. In der Himmelszone, die ja<br />
eine andere Erfahrungswelt als die irdische bezeichnet, finden sich Engel als übernatürliche Wesen,<br />
von denen zwei durch allegorische Attribute ausgezeichnet sind. Sie flankieren die Gottesfigur:<br />
Links des Herrn die „gnadenbringende Liebe“, rechts aber die „strafende Gerechtigkeit“ mit<br />
Schwert und Waage – eine Figur, die an den Erzengel Michael erinnert. 55 Die weißgekleideten Engel<br />
auf höherer Wolkenbank im Hintergrund spiegeln mit ihren Affekten – links fromme Andächtigkeit,<br />
rechts Trauer und Schmerz – das officium der Jahwe direkt assistierenden Engelsallegorien.<br />
Abb. 9: Nach Julius Schnorr von Carolsfeld: Das<br />
Opfer von Kain und Abel, Holzschnitt, in: Die Bibel in<br />
Bildern, Leipzig 1860<br />
Abb. 10: Nach Julius Schnorr von Carolsfeld: Der<br />
Brudermord, Holzschnitt, in: Die Bibel in Bildern,<br />
Leipzig 1860<br />
Kain und Abel um 1850. Zur Ikonographie des ersten Verbrechens<br />
Mit der Einführung allegorischen Bildpersonals hat Bendemann die Illustration des biblischen Brudermordes,<br />
wie er auch in der jüngeren Bildtradition vorgezeichnet war, verlassen. 56 In der Bibel in<br />
Bildern von Julius Schnorr von Carolsfeld, die zwischen 1852 und 1860 in dreißig Lieferungen von<br />
insgesamt 240 Holzschnitten erschien, jedoch auf Vorarbeiten basierte, die bis in die 1820er Jahre<br />
54 1. Mose 4, 11-12.<br />
55 Die Identifikation der Allegorien nach dem Zeitungsbericht anlässlich der Enthüllung des Gemäldes, vgl. Naumburger<br />
Kreisblatt, 11. Juni 1864 (zitiert nach Aschenborn 1998, S. 100). Die Allegorie der „gnadenbringenden Liebe“ sei<br />
„mit dem unaussprechlich süßen Ausdruck des Mitleids und der fürbittenden Liebe, in Antlitz und Haltung als Abgesandte<br />
Gottes aufzufassen.“<br />
56 Zur Ikonographie des Themas siehe Henderson 1986, S. 6-10; Pigler 1974, Bd. 1, S. 19-23; Ulrich 1981; Marzik 1998,<br />
S. 31-65.