Aufsätze - GWDG
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Verbrechen und Gnade 49<br />
zurückreichen, ist die Geschichte vom Tod Abels auf zwei Holzschnitte verteilt. 57 Ihnen fehlt jegliche<br />
allegorische Überhöhung. Der Holzschnitt zu 1. Mose 4, 4-5 (Abb. 9) zeigt den fromm vor<br />
dem Opferaltar betenden Abel, dem sich der Herr in der Wolke offenbart. Kain blickt aus dem<br />
Hintergrund mißtrauisch über die Schulter zu seinem Bruder, während er sein Opfer von Feldfrüchten<br />
darbringt. Auf dem nächsten Holzschnitt zu 1. Mose 4, 8 (Abb. 10) ist der Mord an Abel<br />
gezeigt: Der Herr ist verschwunden, lediglich der irdische Zweikampf vor dem rauchenden Altar ist<br />
in Szene gesetzt. Die Folgen des Verbrechens, die Bestrafung Kains, hat Schnorr ausgespart, denn<br />
der folgende Holzschnitt zeigt schon den Auszug der Kainiten ins Land Nod, „jenseits von Eden“,<br />
wo Kain die Stadt Henoch errichtet (1. Mose 4, 16-17). In der illustrierten Bibel des Verlegers Cotta<br />
von 1850, zu der auch Eduard Bendemann neben Schnorr, Overbeck, Gustav Jäger, Eduard Steinle,<br />
Alfred Rethel und anderen eine Vorlage beigesteuert hatte, findet sich die Geschichte des Brudermordes<br />
auf zwei Holzschnitten nach Zeichnungen Jägers verteilt. 58 Zeigt der erste Holzschnitt<br />
(Abb. 11) die beiden Brüder mit ihren Opferaltären – Kain mit vorwurfsvoller Geste, Abel in betender<br />
Haltung –, so lassen sich von dem zweiten Holzschnitt (Abb. 12) ikonographische Parallelen<br />
zu Bendemanns Gemälde ziehen. Denn dort liegt der erschlagene Abel am Boden und Kain ist im<br />
Begriff, sich vom Antlitz des im Himmel erscheinenden Herrn abzuwenden, der ihn zu einem unsteten<br />
und flüchtigen Dasein verdammt. Der aus dem Bild in eine ungewisse Zukunft flüchtende<br />
Kain besitzt mit Bendemanns Bilderfindung einige Gemeinsamkeiten. Doch noch näher kommt<br />
seinem Entwurf eine 1850 datierte Zeichnung des Kirchenmalers Jakob Speth (1820-1856), die<br />
aufgrund der vorhandenen Numerierung wohl auch Teil eines nicht realisierten Bilderbibel-Projekts<br />
gewesen ist (Abb. 13). 59 Dort ist die Komposition vom Brudermord in nahezu quadratischem Format<br />
gezeigt und achsensymmetrisch aufgebaut.<br />
Abb. 11: Nach Gustav Jäger: Das Opfer von Kain und<br />
Abel, Holzschnitt, in: Die Bibel oder die Heilige Schrift<br />
des Alten u. Neuen Testaments, Stuttgart/München<br />
1850, S. 13<br />
Abb. 12: Nach Gustav Jäger: Der Brudermord,<br />
Holzschnitt, in: Die Bibel oder die Heilige<br />
Schrift des Alten u. Neuen Testaments, Stuttgart/München<br />
1850, S. 14<br />
In der Bildmitte erscheint, von Wolken und Engeln umgeben, der zornige Jahwe über den beiden<br />
Altären der Brüder. Abel liegt erschlagen als ‚schöne Leich‘ am Boden und erinnert kaum zufällig<br />
an die sog. Sterbende Amazone (Neapel, Museo Archeologico Nazionale), eine römische Kopie eines<br />
hellenistischen Originals aus Pergamon, und damit an einen antiken Prototyp ersterbender weiblicher<br />
Schönheit. Die unversehrte Schönheit von Abels Körper gehört in der Neuzeit gewissermaßen<br />
zur Ikonographie. Namentlich in der französischen Malerei des Neoklassizismus gab es dafür Vorläufer:<br />
Auf dem Tod Abels von François-Xavier Fabre aus dem Jahr 1790 (Montpellier, Musée Fabre)<br />
erscheint der Tote als liegende Aktfigur von klassischer Schönheit (Abb. 14).<br />
Wie bei Bendemann läuft Kain, das Gesicht in beiden Händen verbergend, auf der rechten<br />
Bildhälfte vor seiner niederträchtigen Tat davon. Deutlich hat Speth die Herdentiere zwischen Bock<br />
und Schafen differenziert, womit er in einer alten exegetischen Tradition steht, die sich auf Mat-<br />
57 Die Bibel in Bildern von Julius Schnorr von Carolsfeld, Leipzig: Wigand, 1860. Zu Schnorrs Bilderbibel siehe v. a. Ausst. Kat.<br />
Neuss 1982. Zudem Schahl 1936; Nagy 1999; Reents 1999, S. 13-41; Riegelmann 1999, S. 125-143; Grewe 2009a, S.<br />
203-251.<br />
58 Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten u. Neuen Testaments von Dr. Martin Luther. Mit Holzschnitten nach Zeichnungen der<br />
ersten Künstler Deutschlands, Stuttgart/München: J. G. Cotta, 1850, S. 13-14.<br />
59 Privatbesitz, 257 x 305 mm (Blattgröße), 226 x 271 mm (Darstellung), Bleistift auf festem braunen Papier.