Kinder Stärken erleben lassen
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Thema: <strong>Kinder</strong> <strong>Stärken</strong> <strong>erleben</strong> <strong>lassen</strong><br />
Hans Brügelmann<br />
Das FIT-Prinzip von Remo Largo<br />
Plädoyer für eine bessere Passung von individuellen<br />
Persönlichkeitsprofilen und schulischen sowie<br />
gesellschaftlichen Anforderungen<br />
Jedes Kind ist anders. Man hört diesen Satz sehr oft, wenn es um Wege des Lernens<br />
und Methoden zu seiner Unterstützung geht. Wie groß die Unterschiede<br />
tatsächlich sind, hat der Schweizer <strong>Kinder</strong>arzt und Entwicklungsforscher in seinen<br />
Züricher Längsschnittstudien mit vielen Daten eindrucksvoll nachgewiesen.<br />
Zwei Befunde sind für die Grundschuldidaktik zentral.<br />
Erstens: Schon am Schulanfang<br />
unterscheiden sich <strong>Kinder</strong> in ihren<br />
Kompetenzen und Verhaltensweisen<br />
erheblich. Drei Entwicklungsjahre<br />
Differenz sind normal. Das heißt,<br />
auch ohne medizinisch di agnostizierte<br />
Behinderung haben manche Erstklässler*innen<br />
einen Entwicklungsstand<br />
von 4- bis 5-Jährigen, während andere<br />
auf dem Stand durchschnittlicher 7- bis<br />
8-Jähriger sind, wie Largo/ Berglinger<br />
(2009, 18 ff., 284) in ihrem Band<br />
„Schülerjahre“ sehr<br />
anschaulich darstellen.<br />
Das gilt für<br />
Körpergröße und<br />
Gewicht, für Schlafgewohnheiten<br />
bzw.<br />
-bedürfnisse, aber<br />
ebenso für die motorische<br />
und für die<br />
soziale Entwicklung.<br />
Für den Anfangsunterricht besonders<br />
bedeutsam: Diese Unterschiede finden<br />
sich auch in den mathematischen und<br />
den (schrift)sprachlichen Erfahrungen<br />
und Kompetenzen, die die <strong>Kinder</strong> in die<br />
Schule mitbringen.<br />
Um dem einzelnen Kind seinen<br />
nächsten Schritt zu ermöglichen,<br />
reicht es also nicht, das eine oder andere<br />
Arbeitsblatt mehr zu geben, um<br />
„alle auf denselben Stand zu bringen“,<br />
wie oft gefordert wird. Es geht um Wissen,<br />
um Konzepte und Strategien, deren<br />
Entwicklung Zeit braucht. Und da alle<br />
<strong>Kinder</strong> dazulernen, nehmen die Unterschiede<br />
auch nicht ab. Unterricht muss<br />
sich vielmehr darauf einstellen, dass sich<br />
<strong>Kinder</strong> auf Dauer in ihren Voraussetzungen<br />
unterscheiden und dass sie unter-<br />
schiedliche Herausforderungen und Hilfen<br />
brauchen. Von allen dieselbe Leistung<br />
zum selben Zeitpunkt zu fordern<br />
macht keinen Sinn. Es braucht eine Öffnung<br />
des Unterrichts, die ein „Lernen<br />
im eigenen Takt“ ermöglicht.<br />
Zweitens machen Largo/Beglinger<br />
(2009, 285 f.) auf ein weiteres Problem<br />
aufmerksam: die „intra-individuellen“<br />
Unterschiede, also die Differenzen zwischen<br />
verschiedenen Kompetenzniveaus<br />
„innerhalb der <strong>Kinder</strong>“. Manche <strong>Kinder</strong>,<br />
die sprachlich schon sehr weit sind, liegen<br />
vielleicht in ihrer mathematischen<br />
Entwicklung weit zurück. Oder es gibt<br />
eine große Differenz zwischen dem Intelligenzniveau<br />
eines Kindes und seinen<br />
sozialen oder motorischen Kompetenzen.<br />
Daraus folgt: Jedes Kind (und<br />
ebenso jede/-r Erwachsene) hat ein individuelles<br />
Persönlichkeitsprofil, das<br />
die Bildung homogener Gruppen, z. B.<br />
in der Schule, unmöglich macht.<br />
Das sind eigentlich Binsenweisheiten.<br />
Aber immer noch bestimmen gleichschrittige<br />
Lehrgänge den Unterricht<br />
in vielen K<strong>lassen</strong>. Immer noch bleiben<br />
Schüler*innen sitzen, weil sie in einzelnen<br />
Fächern oder Fächergruppen<br />
den Anforderungen nicht gerecht werden.<br />
Und immer noch wird der Lernerfolg<br />
nicht am Fortschritt der einzelnen<br />
Schüler*innen von ihren individuell<br />
unterschiedlichen Voraussetzungen<br />
her gemessen. Stattdessen schreiben<br />
alle dieselbe K<strong>lassen</strong>arbeit am selben<br />
Tag, sind die Durchschnittsleistungen<br />
bei VERA-3 und VERA-8 mit gleichen<br />
Anforderungen für alle zur gleichen<br />
Zeit Maßstab für die Qualität des<br />
Unterrichts – nicht der Lernfortschritt<br />
der jeweiligen Klasse oder einzelner<br />
(Gruppen von) Schüler*innen, bezogen<br />
auf die jeweilige Ausgangslage und<br />
die unterschiedlichen Unterrichts- und<br />
Lernbedingungen.<br />
Das Grundproblem ist die Fehlpassung<br />
von individuellen Lernvoraussetzungen<br />
und externen Anforderungen.<br />
In seinem Buch „Das passende Leben<br />
– Was unsere<br />
Individualität ausmacht<br />
und wie wir<br />
sie leben können“<br />
(2017) diskutiert<br />
Largo diesen „Misfit“<br />
noch grundsätzlicher.<br />
Auf seiner<br />
Website (Largo<br />
o. J./ 2023, 1) bringt<br />
er seine Sicht auf den Punkt:<br />
„So wie der Mensch im Verlauf der<br />
Evolution aus einem unablässigen Zusammenwirken<br />
von Anlage und Umwelt<br />
hervorgegangen ist, bemüht sich<br />
jeder Mensch von der Kindheit bis ins<br />
hohe Alter, seine Individualität in Übereinstimmung<br />
mit der Umwelt zu leben.<br />
Das Baby will so viel Milch trinken, wie<br />
es für sein Wachstum benötigt, nicht<br />
weniger, aber auch nicht mehr. Das<br />
Schulkind will dann lesen und rechnen<br />
lernen, wenn es entwicklungsmäßig<br />
dazu bereit ist. Der Erwachsene<br />
will bei der Arbeit die Leistung erbringen,<br />
zu der er fähig ist. Das Bemühen,<br />
seine Bedürfnisse zu befriedigen und<br />
seine Fähigkeiten zu entfalten und sie<br />
nutzen zu können, trägt wesentlich zum<br />
Lebenssinn bei, von der Geburt bis ans<br />
Lebensende.“<br />
Um dies zu konkretisieren, unterscheidet<br />
Largo (2017, 183 ff.) in seinem Fit-Konzept<br />
sechs Grundbedürfnisse sowie acht<br />
Kompetenzen (2017, 212 ff.).<br />
Den oben skizzierten Befund der großen<br />
Unterschiede in den Kompetenzpro-<br />
6 GS aktuell 165 • Februar 2024