münchen - Münchner Stadtmuseum
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Sein Kino schillert zwischen Tradition und Innovation.<br />
Es folgt einer persönlichen Vorstellung von Fortschritt<br />
und Bewahren. Er hat von den Besten gelernt und weiß,<br />
was er ihnen schuldig ist. In zwei großen Dokumentarfilmen<br />
erweist er seinen Vorbildern im amerikanischen<br />
und italienischen Kino seine Reverenz. Elia Kazan hat<br />
er eine Hommage gewidmet. Mit seiner Film Foundation<br />
bemüht er sich um die Restaurierung von Klassikern<br />
des Weltkinos.<br />
Die Filmgeschichte hat unverkennbare, verblüffende<br />
Spuren in seinem Werk hinterlassen. Es wird von dem<br />
ästhetischen Schock heimgesucht, den ihm die vagabundierende<br />
visuelle Phantasie eines Michael Powell in<br />
jungen Jahren bescherte. Bei GOODFELLAS hat er sich<br />
am Übermut der nouvelle vague inspiriert, an Truffauts<br />
JULES ET JIM und den launigen Regelbrüchen Godards.<br />
Referenzpunkte der Kampfszenen in GANGS OF<br />
NEW YORK sind das sowjetische Montagekino von Dovschenko,<br />
Eisenstein und Pudovkin sowie Orson Welles’<br />
Shakespeare-Adaption CHIMES AT MIDNIGHT. Das<br />
Drehbuchmotiv des Helden, der sich in eine Gangsterbande<br />
einschleicht (und daraufhin in einen Gewissensund<br />
Loyalitätskonflikt gerät), ist an Sam Fullers UNDER-<br />
WORLD, USA angelehnt. Die chinesische Pagode, in<br />
der einige Schlüsselszenen von GANGS OF NEW YORK<br />
spielen, ist dem Dekor nachempfunden, das Boris<br />
Leven (sein Szenenbildner bei NEW YORK, NEW YORK)<br />
für Sternbergs THE SHANGHAI GESTURE entwarf. In<br />
THE DEPARTED zitiert er versteckt Carol Reeds THE<br />
THIRD MAN, John Fords THE INFORMER und Howard<br />
Hawks’ SCARFACE.<br />
Derlei cinephile Verweise sind kein bloßer Selbstzweck,<br />
sondern entspringen einer biographischen Bringschuld.<br />
Das Kino war für ihn von Kindesbeinen an ein Instrument<br />
der Weltteilhabe und später eines, um sich über<br />
die eigenen Wurzeln Rechenschaft abzulegen. Es wird<br />
kein Zufall gewesen sein, dass Scorsese parallel zu<br />
den Vorbereitungen für GANGS OF NEW YORK an seinem<br />
Dokumentarfilm über das italienische Nachkriegskino<br />
arbeitete, IL MIO VIAGGIO IN ITALIA. Er ist gewissermaßen<br />
die epische Fortsetzung von ITALIANAMERI-<br />
CAN, der Dokumentation, die er 1974 über seine Eltern<br />
gedreht hat. In den Erinnerungen an seine Kindheit verdichtet<br />
sich das Bild von Little Italy als einer nahezu autarken,<br />
in sich geschlossenen Gemeinschaft. Das Kino<br />
war dort ein Medium der Heimatverbundenheit. Seine<br />
Großeltern, die 1910 aus Sizilien kamen, hatten keinerlei<br />
Bezug zur ihrer neuen Heimat. Ihre Kinder gingen<br />
morgens zur Arbeit »in eine andere Welt« (Scorsese);<br />
ihre Straße, die Elizabeth Street, »war Sizilien, jedes<br />
Haus ein anderes Dorf«. Ihr Enkel wuchs noch in einer<br />
selbstverständlich hermetischen Umgebung auf (er betrat<br />
angeblich zum ersten Mal die West Side, als er anfing,<br />
an der New York University in Greenwich Village zu<br />
studieren). Nicht von ungefähr ist eine der dichtesten<br />
Passagen der Dokumentation Fellinis I VITELLONI gewidmet,<br />
der als direkte Inspiration für MEAN STREETS<br />
kenntlich wird. Das Viertel, das gerade einmal zehn<br />
Blocks umfasst, ist ein Bollwerk gegen die bedrängende<br />
Unübersichtlichkeit der Großstadt, aber es<br />
schürt zugleich Träume von Flucht und Aufstieg.<br />
So wie in seinen frühen Filmen hatte man das Milieu<br />
der italienischen Einwanderer im US-Kino noch nicht<br />
gesehen. In MEAN STREETS besitzen die hergebrachten<br />
Rituale von Gewalt und Familiensinn noch umfassende,<br />
unwidersprochene Macht. Scorseses Blick auf<br />
seinen Helden ist voller Empathie, aber ohne Komplizenschaft.<br />
Der Mafioso Charlie ist zerrissen zwischen<br />
maskuliner Loyalität, einer beklemmend paranoiden<br />
Sexualmoral, zwischen dem Katholizismus und der<br />
Klassenzugehörigkeit. Erlösung glaubt er nur durch<br />
Schmerz und Gewalt zu erlangen. »Man büßt für seine<br />
Sünden nicht in der Kirche,« sagt er, »sondern auf der<br />
Straße.« Angesichts der Brutalität und Ausweglosigkeit<br />
und der heillosen Fiebrigkeit seiner Protagonisten, die<br />
in Scorseses filmischen Rekonstruktionen seiner Heimat<br />
herrscht, überrascht der Eindruck von Geborgenheit,<br />
den die Dokumentation erweckt. Scorsese erweist<br />
sich in IL MIO VIAGGIO IN ITALIA als wehmütiger Archäologe<br />
einer Welt, die längst verschwunden ist (nicht<br />
zuletzt dank der Emsigkeit ihrer asiatischen Nachbarn:<br />
Chinatown hat Little Italy heute fast gänzlich verschlungen).<br />
Es ist mithin auch das Dokument eines uramerikanischen<br />
Impulses, der Stammeszugehörigkeit. Eigentlich<br />
darf es nicht verwundern, dass einige der Lieblingsfilme<br />
dieses urbansten aller US-Regisseure Western<br />
sind.<br />
TAXI DRIVER: Robert De Niro und Martin Scorsese<br />
Martin Scorsese<br />
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