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münchen - Münchner Stadtmuseum

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dahin in Osteuropa verfemten Werk Franz Kafkas<br />

an, sondern beflügelte den Kampf gegen Machtmissbrauch<br />

und Bürokratismus und für eine Welt der sozialen<br />

Demokratie, Initiative und Verantwortung. Jan Žalman<br />

beschrieb die Situation der 1950er Jahre folgendermaßen:<br />

»Zehn Jahre, einerseits erfüllt von einem<br />

messianischen Glauben an den Sozialismus und von<br />

Aufbaufieber, andererseits vom Kalten Krieg, von Isolation,<br />

von der Drohung einer atomaren Katastrophe und<br />

den Praktiken des Dogmatismus, brachten eine ›Erschütterung<br />

über den Verlust der Werte‹.«<br />

Die ersten Filme der Tschechoslowakischen Neuen<br />

Welle begnügten sich mit der möglichst realistischen<br />

Darstellung des Alltagslebens. »Auf der Leinwand war<br />

immer öfter die scheinbar nicht-stilisierte Welt der jungen<br />

Leute in deren authentischer Umgebung zu sehen,<br />

eine intim beleuchtete Welt von gewöhnlichen, nichtheldenhaften<br />

menschlichen Typen, die oft von Nicht-<br />

Schauspielern verkörpert wurden.« (Ivan Klimeš) Miloš<br />

Forman formulierte die Absichten seiner Filme sehr<br />

klar: Ȇblicherweise gilt als politischer Film nur der<br />

Film, in dem politische Inhalte dargestellt werden. Ich<br />

bin jedoch der Auffassung, dass auch Filme vollkommen<br />

unpolitischen Inhalts wie DIE LIEBE EINER BLON-<br />

DINE politisch sind. Denn der Tenor dieses Films ist die<br />

Überprüfung des eigenen Daseins, die Frage nach dem,<br />

was mit uns und um uns herum geschieht. Da liegt die<br />

Frage nach der Zukunft nicht mehr fern. Sicher wäre es<br />

möglich, engagierter und deutlicher zu argumentieren,<br />

auch andere Themen zu wählen, aber ich glaube, dass<br />

gerade jetzt, in dieser Situation, die nächste Frage die<br />

nach unseren eigenen Angelegenheiten sein soll, die<br />

Frage nach unseren individuellen Belangen. Dass es<br />

überhaupt möglich ist, einen Film darüber zu drehen,<br />

ist ein konkret politisches Zeichen. Vor einigen Jahren<br />

wäre das nach Kenntnis unserer Geschichte kaum<br />

denkbar gewesen.« Anders als die nouvelle vague in<br />

Frankreich oder das free cinema in England entwickelte<br />

der tschechoslowakische Film kein Starsystem, sondern<br />

definierte sich allein über seine Autoren und deren<br />

Sichtweisen.<br />

Der Episodenfilm PERLEN AUF DEM MEERESGRUND –<br />

zu dem auch noch der Kurzfilm GESAMMELTE ROHHEI-<br />

TEN zu zählen ist, der separat herausgebracht wurde –<br />

war das Manifest der jungen Filmemacher: Ausgehend<br />

von Kurzgeschichten Bohumil Hrabals zeigten sie ihre<br />

unterschiedlichen Handschriften. »Ein Politikum von<br />

gro ßer Tragweite verbarg sich auch im Prinzip der Originalität.<br />

Anders zu sehen als die anderen, enthielt ein<br />

Element des Trotzes und stellte eine unberechenbare,<br />

also unkontrollierbare Einzigartigkeit dar, die von der<br />

Macht Toleranz gegenüber alternativen Meinungen verlangte.<br />

Der Regisseur sollte nicht mehr nur der künstlerische<br />

Organisator einer Filminszenierung – um nicht<br />

fremder Gedanken zu sagen – sein, die Aussage über<br />

seine eigene Sichtweise der Welt wurde zum obersten<br />

Prinzip.« (Ivan Klimeš) Der Wille zum Experiment, zu<br />

neuen Stilen und zu neuen Visionen zeigt sich insbesondere<br />

in Filmen von Věra Chytilová, Jan Schmidt<br />

oder Juraj Jakubisko. TAUSENDSCHÖNCHEN ist eine<br />

feministische surreale Komödie, die bis heute in der<br />

Filmgeschichte einzigartig ist. ENDE AUGUST IM HOTEL<br />

OZON entwickelt eine Endzeitvision, die später oft kopiert<br />

und im amerikanischen Mainstream-Kino weiterentwickelt<br />

wurde. VÖGEL, WAISEN UND NARREN ist<br />

ein phantastisches Märchen »über die jungen Leute<br />

von heute, die nicht erwachsen werden wollen und<br />

durch ihre Verrücktheit, ihren Wahnsinn die eigene<br />

Unsicherheit überdecken«.<br />

Abrupt beendete der Einmarsch der Truppen des Warschauer<br />

Pakts in die CSSR am 21. August 1968 das<br />

Experiment des Prager Reformkommunismus und<br />

damit auch die Blütezeit der tschechoslowakischen Kinematographie.<br />

Ulrich Gregor beschreibt die Konsequenzen:<br />

»Zwar konnte das Kino der jungen Regisseure<br />

auch unter der Okkupation etwa noch ein Jahr<br />

ein verstecktes Dasein führen, manche Filme wurden<br />

noch gedreht und sogar exportiert, bis Ende 1969 die<br />

Entwicklung zu einem endgültigen Stillstand kam. In<br />

allen Bereichen wurden die bisher verantwortlichen Leiter<br />

des Filmwesens von ihren Posten entfernt und<br />

durch willfähige Diener des neuen Regimes ersetzt.<br />

Fast alle Regisseure des neuen tschechoslowakischen<br />

Films erhielten Arbeitsverbot, ihre früheren Filme wurden<br />

in die Archive verbannt und nicht mehr gezeigt<br />

(was dazu führte, dass das tschechoslowakische Kino<br />

der 1960er Jahre jahrzehntelang weder im In- noch<br />

Ausland präsent war und quasi zu existieren aufgehört<br />

hatte). Eine Reihe von Regisseuren emigrierte (aber nur<br />

Miloš Forman gelang es, sich in den USA zu etablieren<br />

und eine neue Karriere zu beginnen). Die blieben, konnten<br />

zunächst jahrelang keine Filme mehr drehen oder<br />

wurden wieder auf systemkonforme Unterhaltung festgelegt.<br />

Kirchhofsruhe beherrschte den tschechoslowakischen<br />

Film, der in Provinzialität und politischem Dogmatismus<br />

versank.«<br />

Die Filmreihe zeigt eine durchaus subjektiv gefärbte<br />

Auswahl von Filmen, die die Vielfalt des Kinos der<br />

1960er Jahre vermittelt. Einige der Filme sind hierzulande<br />

noch völlig unbekannt, manche wurden erst<br />

zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung überhaupt für<br />

Aufführungen freigegeben. Verblüffend ist die stilisti-<br />

Prager Frühling<br />

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