Sans-Papiers-Kinder Interview-Manual - Schweizerisches Rotes Kreuz
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Lizentiatsarbeit zu <strong>Sans</strong>-<strong>Papiers</strong>-<strong>Kinder</strong>n von Lisa Weiller Fallanalysen<br />
anderen Leuten, vor allem aber auch seiner Familie und sich selbst, helfen können, sei dies<br />
als Spiderman oder als Justizminister.<br />
Oswald schreibt zum Wunsch von <strong>Kinder</strong>n nach übernatürlichen Fähigkeiten: „Insbesondere<br />
Jungen – und unter ihnen vor allem die jüngeren – wünschen sich Tarnkappen, die Fähigkeit<br />
zu fliegen oder stark wie Superman zu sein. Auch hinter solchen scheinbar irrealen<br />
Wünschen verbergen sich reale Probleme; die phantastischen Fähigkeiten werden für ganz<br />
konkrete Aufgaben benötigt. So will einer etwa fliegen, damit er für die Mutter schneller<br />
einkaufen kann, ein anderer will schnell auf seinen Platz flattern, wenn der Lehrer kommt,<br />
damit er nicht immer als Zuspätkommer bestraft wird“ (Oswald 1994, S. 49).<br />
Azad versetzt sich im Spiel, in seiner Phantasie, in seinen Zukunftswünschen in eine<br />
mächtigere Position. Er hat damit eine Strategie entwickelt, die es ihm ermöglicht, mit seiner<br />
Position als <strong>Sans</strong>-<strong>Papiers</strong>, als Kind, als Machtloser, zumindest emotional gegen die Bösen<br />
anzukämpfen. Das Versetzen in die Position des Spidermans oder des Justizministers hilft<br />
ihm, seine Lebenssituation zu bewältigen, indem es ihm die Macht verleiht, die er in der<br />
gegenwärtigen Realität nicht besitzt.<br />
Armut oder ‚da hab ich ganz viu Geld’<br />
Azads Familie muss mit sehr wenig Geld auskommen. Für Azad gibt es weder neue<br />
Spielsachen noch Taschengeld. Doch er hat seine eigenen Dinge, über deren Besitz er<br />
offensichtlich stolz ist. Er schätzt das wenige, das er hat. Seine Sparbox, in der er all sein<br />
Geld aufbewahrt, hat für ihn einen hohen Stellenwert. Dieses Geld verwaltet er selbst. Er<br />
benützt das Geld nicht nur für sich selbst, um sich kleine Wünsche zu erfüllen, sondern hilft<br />
auch der Mutter aus, wenn er kann. Doch er gibt der Mutter nur dann Geld, wenn er sich<br />
selbst dafür entscheidet. Es ist Azad wichtig, autonom über sein kleines Vermögen (ca.<br />
fünfzehn bis zwanzig Franken) verfügen zu können. Somit hat Azad schon mit seinen sechs<br />
Jahren eine Strategie entwickelt, wie er sich selbst helfen kann. Damit er beispielsweise,<br />
wenn er dann in die Schule kommt, eine Schultasche kaufen kann, hat er schon mindestens<br />
ein halbes Jahr früher begonnen, dafür zu sparen. Erstens hat Azad, um mit der Armut<br />
zurechtzukommen, seine Ansprüche herabgesetzt. Er wünscht sich zwar Spielsachen, die er<br />
nicht hat, kann sich aber auch über das freuen, was er besitzt und es spielt ihm keine Rolle,<br />
ob das selbstgebastelt oder für teures Geld erworben worden ist. Zweitens weiss er sich zu<br />
helfen, indem er seine liebsten Spielsachen selbst repariert so gut es geht, zum Beispiel mit<br />
Ersatzteilen von Dingen, die ihm weniger wichtig sind. Drittens besteht er, wie erwähnt,<br />
darauf, dass er über sein kleines Vermögen selbst verfügen kann und spart lange Zeit, um<br />
das kaufen zu können, was er braucht.<br />
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