Sans-Papiers-Kinder Interview-Manual - Schweizerisches Rotes Kreuz
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Lizentiatsarbeit zu <strong>Sans</strong>-<strong>Papiers</strong>-<strong>Kinder</strong>n von Lisa Weiller Fallanalysen<br />
‚Ich spil UNO elei no vill- vile mal’<br />
Den meisten Freizeitaktivitäten, von welchen Lucia berichtet, geht sie alleine und zu Hause<br />
nach. Wenn sie ihren Tagesablauf erzählt, fällt auf, dass sie, sobald sie die Schule verlässt,<br />
von der Wir- auf die Ich-Form wechselt. Sie geht nach Hause um zu essen, spielen, malen<br />
und fern zu schauen. Dies sind alles Tätigkeiten, die sie alleine verrichten kann. Aus dem<br />
gesamten <strong>Interview</strong> geht hervor, dass sie sich häufig alleine beschäftigt. Die Mutter ist zwar<br />
immer da, Peers hingegen sieht sie nur in der Schule. Am Geburtstag Lucias gab es Kuchen,<br />
Freunde waren keine bei ihr. Lucia hat keine Geschwister. Einzelkinder müssen häufig<br />
lernen, sich alleine zu beschäftigen. Kasten verweist in diesem Zusammenhang auf die<br />
Selbstzentriertheit von <strong>Kinder</strong>n, die ohne Geschwister aufwachsen. „Einem Einzelkind fällt es<br />
leichter, sich hin und wieder auch einmal ungestört mit sich selbst zu beschäftigen und so<br />
allmählich eine etwas selbstzentrierte Haltung aufzubauen“ (Kasten 1995, S. 146). Des<br />
Weiteren verweist er darauf, dass sich weibliche Einzelkinder in verschiedenen Studien als<br />
etwas selbstzentrierter auswiesen als männliche. Dass Lucia gelernt hat, sich alleine zu<br />
unterhalten, erstaunt also nicht weiter, wenn man beachtet, dass sie ohne Geschwister lebt.<br />
Mit dem Beginn des Schulalters beginnen <strong>Kinder</strong> ausserhalb der Familie mit neuen<br />
Personen in Kontakt zu treten, ihre Lebenswelt weitet sich aus vom Kreis der Familie zum<br />
Kreis der Peers (vgl. Baacke 1999, S. 330-353). Lucia hat in der Schule keine Freunde.<br />
Weshalb sie ausser von Tabea von keinen positiven Kontakten zu Peers spricht, ist<br />
schwierig zu sagen. Sicher fällt es ihr aber schwerer, Kontakte zu Peers zu knüpfen und<br />
aufrecht zu erhalten, als anderen <strong>Kinder</strong>n ihres Alters. Als <strong>Sans</strong>-<strong>Papiers</strong> darf sie andere<br />
<strong>Kinder</strong> nicht zu sich nach Hause einladen. Die Familie muss ständig auf der Hut sein davor,<br />
dass ihr Status nicht auffliegt. Daher pflegen die Eltern nur Kontakte zu Leuten, denen sie<br />
vertrauen können. Nach Baacke gilt: „Je mehr Aussenkontakte eine Familie hat und je mehr<br />
expressives Verhalten in der Familie vorherrscht, desto mehr Möglichkeiten haben auch die<br />
<strong>Kinder</strong>, Aussenkontakte anzuknüpfen und Erfahrungen im ausserhäuslichen Bereich zu<br />
machen“ (op. cit., S. 271). Dieses Zitat erläutert, dass das ‚versteckte’ Leben von Lucias<br />
Familie einen starken Zusammenhang damit hat, dass Lucia sich häufig alleine beschäftigen<br />
muss.<br />
„Auch die Schule bringt Gleichaltrige zusammen, aber als Einrichtung der Gesellschaft und<br />
unter der Aufsicht von Erwachsenen. Auch die Familie ist nicht nur altersheterogen, sondern<br />
bietet Raum für altershomogene Zusammenschlüsse: zwischen Geschwistern, mit Freunden<br />
von ‚ausserhalb’, denen in der Wohnung, im Haus oder Garten im wörtlichen Sinne ein<br />
Spielraum gewährt wird. Aber auch hier ist Beobachtung, Kontrolle; der Spielraum ist<br />
eingeschränkt. So ist die Strasse das eigentliche Feld der Gleichaltrigen im<br />
sozialökologischen Nahraum“ (op. cit., S. 338f). Lucias Familie ist dagegen nur<br />
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