Download der aktuellen Ausgabe (Einzelseiten) - Experimenta.de
Download der aktuellen Ausgabe (Einzelseiten) - Experimenta.de
Download der aktuellen Ausgabe (Einzelseiten) - Experimenta.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
die Wagen nur noch im Schneckentempo fuhren. Passend zur rheinischen Weltuntergangsstimmung,<br />
machte er wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einmal einen Spagat. Einerseits hatte sein fieberhaftes Suchen nach einer Freundin<br />
etwas vom Kreisen <strong><strong>de</strong>r</strong> Geier über eine Prärie im Wil<strong>de</strong>n Westen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits war er sich sicher,<br />
heute mal wie<strong><strong>de</strong>r</strong> seinen Fluchtplan umsetzen zu müssen.<br />
Dieser Gedanke ging ihm durch <strong>de</strong>n Kopf, als er sich umdrehte, die Fernbedienung für <strong>de</strong>n Wasserhahn<br />
in die Hand nahm und das Absperrventil aufdrehte. Schon einige Sekun<strong>de</strong>n später lief eiskalte Pepsi<br />
aus <strong>de</strong>m Hahn. Genüsslich trank er die Brause, stillte so seinen Durst – dann konnte er nachher<br />
schneller abhauen!<br />
Mit elektrisieren<strong><strong>de</strong>r</strong> Panik im Körper zog er seine ausgefransten, verblichenen Jeans und ein weißes<br />
T-Shirt an, setzte in Zeitlupe seine schwarze Reitsport-Mütze auf, dachte 3-4-5-0-7-1-9-5-3 und<br />
verließ seine Wohnung. Der Co<strong>de</strong> sorgte dafür, dass die Tür zu seinem Basislager abgeriegelt, die<br />
Alarmanlage eingeschaltet und ebenfalls <strong><strong>de</strong>r</strong> gläserne Fahrstuhl gerufen wur<strong>de</strong>.<br />
Bei seiner Nervosität konnte man meinen, er sei mit <strong>de</strong>m antiquarischen Hannibal Lecter verabre<strong>de</strong>t,<br />
tatsächlich jedoch wür<strong>de</strong> er gleich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Fassa<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s entlang rasen und in null Komma<br />
nichts zu einem Date mit Melinda Braunsfeld gelangen. Während er auf <strong>de</strong>n Aufzug wartete,<br />
betrachtete er ihren Namen von je<strong><strong>de</strong>r</strong> Seite und kam zu <strong>de</strong>m Schluss, dass er ihn nicht mochte.<br />
Melinda … wie altmodisch. Er wür<strong>de</strong> nicht pünktlich erscheinen – na und? Sollte sie doch auf ihn<br />
warten. Egal.<br />
Melinda war, wie er, Stu<strong>de</strong>nt <strong><strong>de</strong>r</strong> Europäischen Sporthochschule, die direkt gegenüber vom<br />
Wohnturm lag. Angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> Blitze, die über <strong><strong>de</strong>r</strong> Sporthochschule <strong>de</strong>n Himmel spalteten, kamen<br />
ihm Be<strong>de</strong>nken, ob heute <strong><strong>de</strong>r</strong> richtige Tag für ein Date sei. Sein Herz klopfte wild, und er überlegte,<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in seine Wohnung zu gehen o<strong><strong>de</strong>r</strong> einfach fluchtartig das Haus zu verlassen. Sollte er mal nach<br />
Pulheim fahren? O<strong><strong>de</strong>r</strong> nach Brauweiler o<strong><strong>de</strong>r</strong> Frechen?<br />
Egal. Hauptsache weg!? Er wusste aber auch, wenn er jetzt nicht zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Verabredung ging, war er<br />
ein Feigling. Und Feiglinge kamen in <strong>de</strong>n Augen <strong><strong>de</strong>r</strong> meisten Leute gleich nach <strong>de</strong>n Petzern. Dazu<br />
kam, dass das Lokal direkt neben <strong><strong>de</strong>r</strong> Eingangshalle lag, und von <strong>de</strong>n meisten Plätzen konnte man<br />
die vier Aufzüge sehen.<br />
Also schob er seine Fluchtgedanken beiseite und sagte sich. Ben, du bist doch kein Feigling!<br />
Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Ben, du bist doch kein Feigling!<br />
Der Fahrstuhl kam jetzt, die Aufzugtür faltete sich zurück und er konnte einsteigen. Als er merkte,<br />
dass die Kabine leer war, wich sein ange<strong>de</strong>utetes Lächeln sofort einer bösen Miene. Während <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
kurzen Fahrt biss er die Zähne zusammen und schlug einige Male heftig gegen die Aufzugwand ...<br />
Okay. Also schön.<br />
Neun Semester hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> 28-Jährige in Köln Psychologie sowie Sportmanagement & Kommunikation<br />
studiert und vor einer Woche seine Abschlussarbeit zum Thema Analyse <strong><strong>de</strong>r</strong> Einfluss-<br />
faktoren auf die Werbewirksamkeit von Leistungssportlern unter beson<strong><strong>de</strong>r</strong>er Berücksich-tigung <strong>de</strong>s<br />
sportlichen Erfolgs im Vergleich zur Popularität einer Sportart geschrieben. Stimmte seine Analyse,<br />
wofür alles sprach, wür<strong>de</strong> er sich in zwei Monaten um eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent an<br />
irgen<strong>de</strong>iner Uni bewerben können. Solange wür<strong>de</strong> er noch das Ergometertraining mit Herzpatienten<br />
leiten – das war eine Art Fahrradfahren im Darkroom (wie <strong><strong>de</strong>r</strong> schwarzgestrichene Raum von <strong>de</strong>n<br />
Stu<strong>de</strong>nten genannt wur<strong>de</strong>) unter fachlicher Leitung. Die zehn Männer und Frauen in seiner Gruppe<br />
hatten etwas, das die meisten an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Menschen nicht hatten: ein Kunstherz. Der Rüffel <strong>de</strong>s<br />
Schicksals war bei ihnen nicht ins Leere gegangen. Nach einem Herzinfarkt war ihr krankes Organ<br />
sofort – wie es in <strong><strong>de</strong>r</strong> heutigen Medizin üblich war – gegen einen Hightech-Apparat von <strong><strong>de</strong>r</strong> Größe<br />
einer Batterie ausgetauscht wor<strong>de</strong>n.<br />
Das hieß aber nicht, dass man diese Menschen in Watte packte. Zweimal in <strong><strong>de</strong>r</strong> Woche mussten sie<br />
www.eXperimenta.<strong>de</strong><br />
20 Juni 2013