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Der Mord geschah tagsüber, zog sich über Tage hin.<br />

Eine grauhaarige Frau wagt sich auf das Geflecht – ein prüfen<strong><strong>de</strong>r</strong> Schritt, dann schreitet sie<br />

unbeirrt wie die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en darüber hin. Sie ist es, die vor ihrem Haus Ranken pflegt. Sie nimmt einen<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Weg als die Jungen, trifft, wo sich das gesponnene Netz kreuzt, mit ihnen zusammen.<br />

Unbefangen, als hätten sie ihr nichts angetan, lässt sie die bei<strong>de</strong>n passieren.<br />

Aus allen Häusern kommen sie, lassen sich von <strong>de</strong>m Spinnennetz tragen, bewegen sich auf <strong>de</strong>n<br />

Keller zu. Den Träumer hält es nicht mehr in seinem Zimmer. Auch er begibt sich hinaus auf die<br />

schwanken<strong>de</strong>n Fä<strong>de</strong>n, ohne tasten<strong>de</strong>n Schritt wie die grauhaarige Frau – <strong><strong>de</strong>r</strong> Gang über das<br />

gesponnene Netz ist ihm aus vielen Nächten vertraut. Nicht so schlank wie die magere Frau, nicht<br />

so dick wie <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m Bauch, einiges älter als die bei<strong>de</strong>n Jungen zusammen, macht er sich auf,<br />

die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu begleiten. Er kennt nicht je<strong>de</strong>n von ihnen, manchen nur so, wie entfernte Nachbarn<br />

sich un<strong>de</strong>utlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesichter <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en in <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße erinnern. Sie haben das gleiche Ziel.<br />

Den Keller hat <strong><strong>de</strong>r</strong> Träumer ent<strong>de</strong>ckt – in einem Traum, einen Keller mit einem Zugang aus je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Himmelsrichtung, ein Gewölbe aus Bruchstein, vom rötlich flackern<strong>de</strong>n Licht eines Holzfeuers<br />

mäßig erhellt. Dahin streben sie Nacht für Nacht über die Lianen, über das Spinnengeflecht,<br />

erzählen im Gewölbe einan<strong><strong>de</strong>r</strong>, was sie bewegt und im Tageslicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s wirkt, darin untergeht.<br />

Irgendwer beginnt mit <strong>de</strong>m Erzählen. Manchmal mischt ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>er sich ein, ergänzt, wovon<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> erste berichtet. Die übrigen nehmen es in sich auf, genießen die Gedanken, Worte, I<strong>de</strong>en,<br />

nehmen sie mit in <strong>de</strong>n nächsten Tag.<br />

„Am Anfang unserer Stadt war ein Denkmal, ein Heiligtum“, berichtet die schlanke, rothaarige<br />

Frau. „Ein Wald war sein Sockel. Er ist es noch. Der Wald am Ran<strong>de</strong> unserer Stadt. Am Anfang<br />

war nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Wald. Die das Denkmal verehrten, das Heiligtum, betrachteten <strong>de</strong>n Wald gegen<br />

Osten. Vor allem <strong>de</strong>s Abends, <strong>de</strong>s Nachts, vor allem bei Vollmond. Dann stand, dann steht <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mond wie eine leuchten<strong>de</strong> Kugel über <strong>de</strong>m Wald, wirkt wie von <strong>de</strong>n Baumstämmen gehalten.<br />

´Der Wald, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mond`, sagten sie damals, ´das ist unser Heiligtum.`<br />

Unsere Stadt wur<strong>de</strong> größer, mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ner. Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ner mit ihr das Denkmal. Im Westen, hinter <strong>de</strong>m<br />

Wald, liegt jetzt <strong><strong>de</strong>r</strong> Flugplatz. Kaum jemand betrachtet das Denkmal noch gegen Osten. Der<br />

Blick ist überholt, veraltet. In Richtung Westen ist das Denkmal mo<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Erst ist ein Donnern<br />

zu hören. Dann steigen die Flugzeuge auf wie Raketen hinter <strong>de</strong>m Wald, <strong><strong>de</strong>r</strong> ein Denkmal <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Technik ist mit seinen Baumstämmen, aus <strong>de</strong>nen die Flugzeuge zu wachsen scheinen, bevor sie<br />

sich zum Himmel, zu fernen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n erheben. Viele, immer mehr, beinahe alle betrachten das<br />

Denkmal in Richtung Westen. Unser Heiligtum.“<br />

Die magere Rothaarige, <strong><strong>de</strong>r</strong>en gellen<strong>de</strong> Stimme ihn tagsüber nervt. Und jetzt weiß sie solche<br />

Geschichten. Doch <strong>de</strong>swegen ja schätzt <strong><strong>de</strong>r</strong> Träumer ihre nächtlichen Treffen so sehr.<br />

„Ein riesiger Holztisch, an <strong>de</strong>m wir tafeln“, beginnt <strong><strong>de</strong>r</strong> Dicke, „dreißig Personen und mehr. Ein<br />

Gelage. Bedienstete tragen auf, soviel wir wollen. Eine wärmen<strong>de</strong> Masse füllt meinen Magen. Ein<br />

wohliges Gefühl. Seligkeit. Doch auf <strong>de</strong>m Gipfel <strong><strong>de</strong>r</strong> Seligkeit biegen sich die Zinken <strong><strong>de</strong>r</strong> Gabel<br />

in meinen Hän<strong>de</strong>n gegen mich, bohren sich mir in die Arme. Rund um <strong>de</strong>n Tisch richten sich<br />

Bestecke gegen die Esser. Rin<strong><strong>de</strong>r</strong>her<strong>de</strong>n brechen aus unseren überfüllten Mägen aus, jagen<br />

über <strong>de</strong>n Holztisch dahin, jetzt eine staubige Ebene mit gelbem, trockenen Gras, senken ihre<br />

gehörnten Häupter, rennen gegen uns an, die wir sie vertilgt haben. – ´Was hat das zu be<strong>de</strong>uten?`<br />

frage ich mich.“<br />

Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en lachen, blicken auf seinen Bauch, <strong><strong>de</strong>r</strong> zu einem Ballon wird, ihn gegen die Decke <strong>de</strong>s<br />

Gewölbes hebt. Ängstlich rufend klammert <strong><strong>de</strong>r</strong> Dicke seine Hän<strong>de</strong> um <strong>de</strong>n Ballon. Der nimmt an<br />

Umfang ab, <strong><strong>de</strong>r</strong> Dicke senkt sich zum Bo<strong>de</strong>n, lan<strong>de</strong>t als ein Mensch ohne monströsen Bauch,<br />

blickt verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t an sich herab.<br />

www.eXperimenta.<strong>de</strong><br />

66 Juni 2013

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