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Theo Schmich<br />
Träumen<strong>de</strong> Stadt<br />
Seit fast dreißig Jahren lebt er in <strong>de</strong>m von täglichem Lärm umgebenen Haus. Davor wohnte er<br />
in an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Häusern <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e Häuser, die gleiche Stadt, ein Tag, ein Morgen wie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>e in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt: Die Uhr auf <strong>de</strong>m Schrank tickt; ein Flugzeug brummt verhalten am Himmel,<br />
erscheint flüchtig über <strong>de</strong>n Dächern <strong><strong>de</strong>r</strong> Häuser gegenüber; die erste Straßenbahn rumpelt<br />
vorüber; ein Auto springt mühsam an; auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße unter <strong>de</strong>m Fenster Passanten, die eine<br />
angeregte Unterhaltung beginnen – ihr Gespräch geht unter im Trompeten <strong>de</strong>s Signalhornes <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Bauarbeiter, die die Gleise <strong><strong>de</strong>r</strong> Straßenbahn reparieren, taucht am En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeitsmusik wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
auf.<br />
Das alles ist am Vormittag noch erträglich. Gegen Mittag wer<strong>de</strong>n die Geräusche aufdringlicher –<br />
die Straßenbahn rumpelt lauter, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Baustelle her dröhnt ein Presslufthammer, das Lärmen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Passanten nimmt zu, ihr Sprechen klingt aggressiver. Der Lärm baut Stress in ihm auf. Den<br />
Nachbarn ergeht es nicht besser. Haben sie am Vormittag noch freundlich gegrüßt, so wirken sie<br />
am Nachmittag abweisend, mürrisch.<br />
Irgendwann en<strong>de</strong>t <strong><strong>de</strong>r</strong> Tag, <strong><strong>de</strong>r</strong> Lärm, die mürrischen Blicke <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachbarn, es dämmert, wird<br />
dunkel, wird Nacht. Er liebt die schützen<strong>de</strong> Stille <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht. So, wie das Haus, von <strong>de</strong>m er oft<br />
träumt, das es vielleicht gar nicht gibt - ein ruhiges Haus, in das kein Lärm dringt, kein Geschrei,<br />
kein Geschimpfe. Davon und von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Dingen träumt er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht.<br />
Glitzern<strong>de</strong> Spinnfä<strong>de</strong>n bil<strong>de</strong>n sich zwischen <strong>de</strong>n Häusern, breiten sich aus, spannen sich von<br />
Fenster zu Fenster, verbin<strong>de</strong>n ihn mit <strong>de</strong>n Träumern in <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Häusern <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt. Die<br />
Spinnfä<strong>de</strong>n verdicken sich zu Lianen. Dunkle Schatten huschen darüber hin – die Nachbarn<br />
<strong>de</strong>s Tages, die es drängt, ihre Erlebnisse und Träume, ihre von <strong><strong>de</strong>r</strong> Ruhe <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht besänftigten<br />
Gedanken auszutauschen.<br />
Da kommt die magere, rothaarige Frau von gegenüber, <strong><strong>de</strong>r</strong>en gellen<strong>de</strong> Stimme am Tag aus<br />
<strong>de</strong>m Haus auf die Straße dringt, wenn sie, überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t, ihre Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> dahin bringen will, sich so zu<br />
verhalten, wie es ihr als richtig erscheint. Sie sollte sich ihr Geschrei abgewöhnen, die Frau. – In<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Dunkelheit wirkt sie schlank, nicht mager. Ruhig schreitet sie über die Lianen.<br />
Der Dicke betritt einen <strong><strong>de</strong>r</strong> Spinnfä<strong>de</strong>n, eine Liane. Auch er ein Nachbar. Am Tag, nach Feierabend,<br />
an Wochenen<strong>de</strong>n, liegt er im Fenster, wen<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Kopf nach links, nach rechts, blickt die Straße<br />
entlang, nach links, nach rechts ... Das Monströseste an ihm ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Bauch – kein Bauch, ein<br />
Ballon.<br />
„Wie hält ein Mensch das aus, seine Freizeit im Fenster zu verbringen?“, fragt <strong><strong>de</strong>r</strong> Träumer sich,<br />
wenn er nicht träumt. Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>t sich nicht über <strong>de</strong>n Bauch. Sagt, dass er ein träger Mensch sei,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Dicke. Kann ihn nicht lei<strong>de</strong>n. – Im Traum wirkt sein Bauch wie ein Ballon, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihn trägt, dafür<br />
sorgt, dass die Liane nicht reißt. Beinahe anmutig, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Dicke schwerelos über <strong>de</strong>n Spinnfa<strong>de</strong>n<br />
gleitet. Der Träumer freut sich auf das Treffen mit ihm und <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en.<br />
Die bei<strong>de</strong>n Jungen erscheinen, die <strong>de</strong>n Mord begingen. Im Traum <strong>de</strong>nkt er, dass es Mord war.<br />
Wenn er erwacht, war es kein Mord. Doch jetzt ist er, sind sie im Traum. Um die sechzehn, die<br />
bei<strong>de</strong>n Jungen, die die meiste Zeit auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße verbringen. Der Bartflaum <strong>de</strong>s einen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
tagsüber unangenehm struppig wirkt, ist im schwachen Licht <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht nicht zu erkennen.<br />
Der an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, von Gestalt kleinere, blickt aus gutmütigen Augen wie am Tag. Er soll <strong><strong>de</strong>r</strong> Anstifter<br />
gewesen sein. Gemessen, nicht voller Übermut wie am Tag, bewegen sie sich über die Lianen.<br />
Juni 2013 65<br />
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