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Prof. Dr. Mario Andreotti<br />

Wenn ein Gespräch über Bäume wie<strong><strong>de</strong>r</strong> möglich wird<br />

Teil Vier – Von <strong><strong>de</strong>r</strong> literarischen Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne zur Postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne<br />

Geistreiche Leselabyrinthe<br />

Nun aber zu <strong>de</strong>m von mir angekündigten nicht<strong>de</strong>utschen Autor. Es han<strong>de</strong>lt sich um <strong>de</strong>n<br />

italienischen Essayisten und Romancier Italo Calvino, <strong><strong>de</strong>r</strong> 1979 mit seinem Roman „Wenn ein<br />

Reisen<strong><strong>de</strong>r</strong> in einer Winternacht“ Aufsehen erregt hat. Warum? Ganz einfach <strong>de</strong>shalb, weil es gar<br />

kein Roman ist, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n eine Ansammlung verschie<strong>de</strong>nster Romananfänge: Der Leser beginnt<br />

zu lesen und merkt plötzlich, dass sich eine ganze Passage wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt, dass auf die Seite 32<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Seite 17 folgt. Verärgert darüber, dass er die Lektüre nicht fortsetzen kann, sucht <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Leser am nächsten Tag die Buchhandlung auf, um das Buch, bei <strong>de</strong>m es sich offenbar um einen<br />

Fehldruck han<strong>de</strong>lt, umzutauschen.<br />

Dort erhält er vom Buchhändler in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat ein neues Exemplar und als er wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu lesen beginnt,<br />

merkt er, dass er gar nicht <strong>de</strong>n Roman „Wenn ein Reisen<strong><strong>de</strong>r</strong> in einer Winternacht“, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

<strong>de</strong>n Roman eines polnischen Autors liest. Gleichwohl liest er weiter. Plötzlich stößt er auf zwei<br />

leere Seiten. Offenbar wur<strong>de</strong>n die Bogen versehentlich nur einseitig bedruckt. Als er wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

weiterlesen kann, erkennt er anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> Orts- und Personennamen, dass es sich gar nicht um<br />

<strong>de</strong>n Text eines polnischen Autors han<strong>de</strong>lt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n um <strong>de</strong>n einzigen erhaltenen Roman eines<br />

kimmerischen Dichters mit <strong>de</strong>m Titel „Über <strong>de</strong>n Steilhang gebeugt“. Als er versucht, diesen<br />

Roman zu übersetzen, merkt er<br />

Reinhard Stammer My song 70x50 cm 2012<br />

www.eXperimenta.<strong>de</strong><br />

sofort, dass es sich nicht um einen Roman han<strong>de</strong>lt,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n um einen ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Text, nämlich um eine<br />

Art Tagebuch. Und so geht das fast unendlich weiter:<br />

Immer beginnt <strong><strong>de</strong>r</strong> Leser in einem Roman zu lesen, und<br />

immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> muss er merken, dass es sich nicht um <strong>de</strong>n<br />

Roman han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>n er vor sich zu haben glaubte. Calvinos<br />

Roman „Wenn ein Reisen<strong><strong>de</strong>r</strong> in einer Winternacht“ –<br />

man beachte diesen syntaktisch unvollständigen Titel<br />

– besteht aus lauter Romananfängen – bis <strong><strong>de</strong>r</strong> Leser<br />

am Schluss merkt, dass er doch <strong>de</strong>n Roman von Italo<br />

Calvino gelesen hat.<br />

Italo Calvino treibt mit seinen Lesern, in<strong>de</strong>m er ein<br />

geistreiches Leselabyrinth entwickelt, ein Spiel. In<strong>de</strong>m<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Leser nie über einen Romananfang hinauskommt,<br />

ist er gezwungen, das konventionelle Erzählen kritisch zu<br />

reflektieren, es – und darauf kommt es an – in ironischer<br />

Distanz neu zu sehen. Es geht im postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Roman<br />

also nicht wie im mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen darum, die Unerzählbarkeit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> heutigen Welt zu <strong>de</strong>monstrieren, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n darum,<br />

sich, gera<strong>de</strong> weil das Erzählen an ein En<strong>de</strong> gekommen ist,<br />

weiterhin ans Erzählen zu machen, aber im Bewusstsein,<br />

dass man dieses Erzählen jetzt an<strong><strong>de</strong>r</strong>s, eben als reines<br />

Spiel, sieht. Die Literaturwissenschaft hat für dieses<br />

postmo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Spiel mit verschie<strong>de</strong>nen Texten in einem<br />

58 Juni 2013

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