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„Keine Rin<strong><strong>de</strong>r</strong>her<strong>de</strong>n mehr!“, schwört er.<br />
„Und nicht links und rechts aus <strong>de</strong>m Fenster“,<br />
ermahnt <strong><strong>de</strong>r</strong> Träumer ihn. „Vielleicht lockt ihn<br />
ein Spaziergang von Rind und Fenster fort“,<br />
<strong>de</strong>nkt er im Traum. „Ich la<strong>de</strong> ihn ein – wieso<br />
nicht? Gleich morgen la<strong>de</strong> ich ihn zu einem<br />
Spaziergang.“<br />
„Pflanzen, riesig wie diese Ranke, gehören<br />
nicht in eine Stadt“, sagt einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Jungen,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> kleinere, <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>n gutmütig blicken<strong>de</strong>n<br />
Augen. „Nicht vor ein Wohnhaus.“ Es klingt,<br />
als verteidige er sich. Angegriffen hat ihn<br />
niemand.<br />
„So fing es an“, bestätigt <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m Bartflaum,<br />
„das hat er gesagt. ´Aber da steht sie nun<br />
einmal`, antwortete ich.“<br />
Die Re<strong>de</strong> ist von <strong><strong>de</strong>r</strong> Klematis, wissen die<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>en. Die sich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Wand vor <strong>de</strong>m Haus<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> grauhaarigen Frau emporwand, seit Jahren,<br />
Jahrzehnten. Die Ranke kletterte schon, als er<br />
in das Haus zog, erinnert <strong><strong>de</strong>r</strong> Träumer sich.<br />
Damals reichte sie nur über die erste Fenster-<br />
reihe hinauf. Doch ihre rosafarbenen Blüten leuchteten aus <strong>de</strong>m Bach grüner Blätter, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich<br />
die Hauswand hinunter ergoss, damals so frisch, wie – bis vor ein paar Wochen. Das Haar <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Frau war noch nicht ergraut. Unermüdlich hat sie die Klematis gepflegt, bis die unter das Dach<br />
reichte. So mancher, <strong><strong>de</strong>r</strong> vorüberging, bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>te die Ranke. Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Jungen<br />
führte daran vorbei. Sie sind Nachbarn, wie die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en auch. Oft blieben sie an <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauswand<br />
gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> Ranke stehen, lehnten sich gegen die Wand. Nicht, um die Pflanze zu bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />
Sie stan<strong>de</strong>n dort, um zu re<strong>de</strong>n. Manchmal fiel ihr Blick auf die Ranke.<br />
„´Ihr könnte was zustoßen`, entgegnete ich“, sagt <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m unschuldigen Blick.<br />
„Er meint die Ranke“, murmeln die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en.<br />
„´Was sollte ihr zustoßen?`, wollte ich wissen“, fährt <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m Flaum im Gesicht fort. „´Die Frau<br />
sorgt für sie. Und wenn es für Wochen nicht regnet – sie wird sie begießen.`“<br />
„Er verstand nicht“, seufzt <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e. „´Also müssen wir nachhelfen`, sagte ich.“<br />
„Mir wur<strong>de</strong> klar, was er meinte“, berichtet <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m Flaum. „Nachhelfen. Aber wie? Ausreißen?<br />
Ausgraben? Unmöglich, so alt, so stark, wie die Ranke war. – In <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht sägten wir <strong>de</strong>n Stamm<br />
dicht über <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n durch. Mit einer feinen Säge, damit es nicht sogleich auffiel.“<br />
„Es hat zwei Wochen gedauert, bis die Frau es bemerkte“, sagt <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m gutmütigen Blick.<br />
„Sie hat die Ranke begossen, wie immer. Wir stan<strong>de</strong>n an <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauswand gegenüber. Die Blätter<br />
wur<strong>de</strong>n gelb, fielen ab. Dann zog sie an <strong>de</strong>m Stamm, stellte fest, dass er sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> Wand<br />
abheben ließ, dass er durchgesägt war, tot. Sie blickte uns an – <strong>de</strong>n Blick wer<strong>de</strong> ich nicht<br />
vergessen. Beweisen konnte sie nichts.“<br />
„Aber warum?“, wollen die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en wissen. „Wieso die Ranke zersägt?“<br />
„Was sonst hätten wir tun sollen?“, entgegnet <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleinere.<br />
Theo Schmich wur<strong>de</strong> 1935 in Essen geboren. Parallel zu seiner<br />
Arbeit als Ingenieur hat er zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte<br />
geschrieben. Etwa 350 seiner Geschichten wur<strong>de</strong>n in Zeitungen und<br />
Zeitschriften veröffentlicht. Schmich hat zwei eigenständige Bücher<br />
mit Lyrik, bzw. eigenen Kurzgeschichten veröffentlicht. In etwa 50<br />
Anthologien sind Einzelbeiträge von ihm erschienen. Stu<strong>de</strong>nt im ersten<br />
Studiengang <strong>de</strong>s INKAS Instituts (1998 bis 2000). Preisträger <strong>de</strong>s<br />
Publikumpreises Bumerang 1999.<br />
„Wir können uns nicht <strong>de</strong>n ganzen Tag nur gegen Hauswän<strong>de</strong> lehnen“, sagt <strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>m<br />
Juni 2013 67<br />
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