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einen muskulösen Jungen, <strong><strong>de</strong>r</strong> dabei so schrie, als wolle er irgendwelche Toten erwecken. Nichts<br />

Ungewöhnliches. O<strong><strong>de</strong>r</strong>? Einige an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Gäste lächelten zwar schief, aber niemand sagte etwas. Denn<br />

das Klinken in <strong><strong>de</strong>r</strong> Öffentlichkeit war längst eine Selbstverständlichkeit gewor<strong>de</strong>n, und im Ostello lagen<br />

dafür überall Matratzen bereit. Außer<strong>de</strong>m waren zwischen allen Tischen dicke Pfähle in <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n<br />

eingelassen wor<strong>de</strong>n. Auf ihnen ruhten die Bezahlterminals, vor die man sein, nur wenige Zentimeter<br />

großes CanDy hielt, wenn es galt, etwas zu bezahlen. Schließlich hatte so gut wie niemand mehr<br />

Bargeld in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tasche. Die Bretter auf <strong>de</strong>n Pfählen dienten als Ablage für die Kleidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gäste, die<br />

zwischen <strong>de</strong>n Gängen eine Run<strong>de</strong> klinken wollten. In regelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n hingen im ganzen<br />

Lokal Spiegel an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n. Die Wirkung auf die Gäste war sicher nicht unangenehm, wenn<br />

auch Spiegel an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n etwas aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong> gekommen waren. Eine Aushilfe, die nur eine<br />

Hüftschnur trug, klopfte gera<strong>de</strong> die Matratzen ab und schaute immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in einen <strong><strong>de</strong>r</strong> Spiegel.<br />

Das Lieblingslokal <strong><strong>de</strong>r</strong> notorischen Stu<strong>de</strong>nten war <strong><strong>de</strong>r</strong> i<strong>de</strong>ale Ort für ein Date. Das Ostello hatte<br />

etwas total Unheimliches, fand Ben Kratzenstein und biss sich auf die Innenseiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Wangen.<br />

Obwohl es in einem Stu<strong>de</strong>ntenwohnheim lag, war es trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Flask-Musik von B.E., die jetzt aus<br />

<strong>de</strong>n apfelgroßen Boxen drang, kein Ort <strong><strong>de</strong>r</strong> Neuzeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ein Ort, in <strong><strong>de</strong>r</strong> die Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Römer<br />

konserviert wor<strong>de</strong>n war.<br />

Ben Kratzenstein überlegte, sich umzudrehen, um sich doch noch zurückzuziehen. Doch bevor er<br />

sich mehr als ein paar Zentimeter bewegt hatte, hörte er schon ihre Stimme:<br />

„Hallo, Ben, Frie<strong>de</strong>n. Hier bin ich.”<br />

„Wo ist hier?” Er erstarrte und spürte, dass er sie nicht wür<strong>de</strong> austricksen können. Schweißperlen<br />

traten auf seine Stirn, und es war, weiß Gott, nicht so heiß draußen.<br />

„Hier hinten”, rief die Frau in <strong>de</strong>m schimmern<strong>de</strong>n hautengen, hellblauen Anzug und <strong><strong>de</strong>r</strong> weißen Bluse<br />

mit Bubukragen. Sie strahlte ihn an, als habe er soeben das Rad erfun<strong>de</strong>n.<br />

Er heftete seine Augen in ihre Richtung und reagierte mit einem ange<strong>de</strong>uteten Lächeln, das<br />

vermutlich ihr Blut noch mehr in Wallung brachte. Als er seine Inspektion been<strong>de</strong>t hatte, schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />

er gemächlich zur nierenförmigen Glastheke, die <strong>de</strong>n rechten Teil <strong>de</strong>s Lokals ausmachte. Er nahm<br />

sich ein schäumen<strong>de</strong>s Bier und trank einen kräftigen Zug. Die Bar hatte ursprünglich in einem Hotel<br />

am Stadtwald gestan<strong>de</strong>n, das vor einigen Jahren abgerissen wor<strong>de</strong>n war. Wenn er das Alleinsein<br />

satt hatte – und das kam neuerdings regelmäßig vor – war das hier sein Stammplatz.<br />

Das Leben war schön!<br />

Neben ihm kippten sich zwei teuer ausstaffierte Jungspun<strong>de</strong> einen hinter die Bin<strong>de</strong>.<br />

„Das tut mir leid”, sagte gera<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> eine.<br />

„Wirklich?”, fragte <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e skeptisch.<br />

„Nein, eigentlich nicht.”<br />

Nach gefühlten 1000 Minuten zwängte Ben Kratzenstein sich langsam zwischen Matratzen und<br />

Pfählen hindurch, tapfer hielt er dabei <strong>de</strong>n Bierkrug in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand und spähte durch die Wasserschlieren<br />

auf <strong>de</strong>n Fensterscheiben. Viel war nicht zu sehen, nur ein durchsichtiger Graphen-Pfeil <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen<br />

Elektro-Schwebebahn Skyli, <strong><strong>de</strong>r</strong> direkt vor <strong>de</strong>m Gebäu<strong>de</strong> stand. Auf einer gläsernen Fahrbahn in<br />

zehn Meter Höhe fuhren alle 90 bis 180 Sekun<strong>de</strong>n die einäugigen Züge vollautomatisch zwischen<br />

Quadrath-Ichendorf und <strong>de</strong>m Kölner Hauptbahnhof hin und her. Am dicht bebauten, ehemaligen<br />

Aachener Weiher verschwan<strong>de</strong>n die Wagen allerdings ohne Vorwarnung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong> und flitzten als<br />

U-Bahn die letzten Kilometer über Richard-Wagner-Straße und Neumarkt. Erst seit einem Jahr gab<br />

es die neue Verbindung, die alten Gleise <strong><strong>de</strong>r</strong> Straßenbahnlinie 1 waren kürzlich entfernt wor<strong>de</strong>n, um<br />

Platz für neue Fahrspuren für Autos zu schaffen.<br />

„Hör mal.”, sagte sie jetzt zur Begrüßung, ergriff seine Hand und schüttelte sie fest, „Ich langweile<br />

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22 Juni 2013

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