Du lebst nur zweimal
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Ian Fleming<br />
Hitze auf einige Meter Entfernung spüren. Stinkende Dampfstrahlen stiegen<br />
zischend hoch. Und jetzt tauchte über den Bäumen der gezackte Umriß des<br />
Schlosses mit seinen geschwungenen Türmchen auf. Bond kroch mit doppelter<br />
Vorsicht darauf zu; er war darauf vorbereitet, jeden Augenblick auf den<br />
verräterischen Kiesstreifen zu stoßen, der es umgab. Plötzlich lag er vor ihm. Er<br />
blieb im Schutz der Bäume stehen; sein Herz hämmerte wild.<br />
Das schwarz-goldene Gebäude stieg riesenhaft vor ihm in die Höhe, und<br />
die nach oben kleiner werdenden geschwungenen Dächer der einzelnen<br />
Stockwerke erinnerten an gewaltige Fledermausflügel. Es war größer, als Bond<br />
es sich vorgestellt hatte, auch die Stützmauer aus schwarzen Granitsteinen sah<br />
abweisender aus. Er dachte über das anscheinend unlösbare Problem nach, in<br />
das Schloß einzudringen. Auf der anderen Seite lagen der Haupteingang, die<br />
niedrige Mauer und die offene Landschaft. Aber hatten Schlösser nicht immer<br />
einen tiefgelegenen Notausgang an der Rückseite? Bond schlich vorsichtig<br />
weiter und trat dabei so behutsam auf, daß der Kies sich kaum bewegte. Die<br />
vielen im Mondlicht weiß glitzernden Augen des Schlosses beobachteten ihn mit<br />
der Gleichgültigkeit unerschütterlichen Machtbewußtseins. Er rechnete jeden<br />
Augenblick mit dem grellen Strahl eines Scheinwerfers oder dem gelblichblauen<br />
Mündungsfeuer der Gewehre. Er erreichte jedoch den Fuß der Mauer ohne<br />
Zwischenfall und glitt an ihr entlang nach links, wobei er sich daran erinnerte,<br />
daß die meisten Burgen oder Schlösser auf der Höhe des Grabens unter der<br />
Zugbrücke einen Ausgang hatten.<br />
Doktor Martells Schloß machte keine Ausnahme: eine kleine, eisenbeschlagene,<br />
rundbogige, verwitterte Tür. Die Angeln und das Schloß hingen lose im Holz und<br />
waren verrostet, aber man hatte ein neues Vorhängeschloß und eine Kette mit<br />
Krampen im Holz und im steinernen Rahmen befestigt. Kein Mondlicht drang<br />
in diesen Winkel, der einmal Teil eines Wassergrabens gewesen sein mußte, jetzt<br />
aber von Gras überwuchert war. Bond tastete sorgfältig mit den Fingern um sich.<br />
Ja! Die Kette und das Schloß ließen sich mit der Feile und dem Brecheisen aus<br />
seinem Wunderbeutel öffnen. War die Tür von Innen verriegelt? Wahrscheinlich<br />
nicht, sonst hätte man das Vorhängeschloß nicht für nötig erachtet. Bond schlich<br />
auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war. Die Tür würde morgen<br />
sein Ziel sein!<br />
Bond setzte seinen Erkundungsgang fort, wobei er weiter der<br />
Umfassungsmauer folgte. Einmal schlängelte sich direkt vor seinen Füßen etwas<br />
davon und verschwand raschelnd in den heruntergefallenen Blättern unter<br />
einem Baum. Welche Schlangen griffen Menschen wirklich an? Die Königskobra,<br />
die schwarze Mamba, die Viper, die Klapperschlange. Welche noch? Die übrigen<br />
flüchteten meist, wenn man sie aufstörte. Waren Schlangen am Tag oder in der<br />
Nacht auf Beute aus? Bond wußte es nicht. Er befand sich nun auf der dem Schloß<br />
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