Gerda Freise Warum studierte ich Chemie? - Gute UnterrichtsPraxis
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von ihnen ausgesprochene Gegner des Nationalsozialismus waren, viele auch<br />
nur deshalb in München <strong>Chemie</strong> <strong>studierte</strong>n, weil sie als Halbjuden hier noch<br />
eine Chance zu haben glaubten, ihr Studium mit einem Diplom oder einer Promotion<br />
abschließen zu können. Manche von ihnen hatten ursprüngl<strong>ich</strong> ganz andere<br />
Studienpläne gehabt. Der Institutsdirektor, Geheimrat Heinr<strong>ich</strong> Wieland<br />
(Nobelpreisträger des Jahres 1927), machte näml<strong>ich</strong> aus seiner anti-nationalsozialistischen<br />
Einstellung keinen Hehl. Weit über München hinaus war bekannt<br />
geworden, dass er auch diejenigen halbjüdischen Studenten im Institut arbeiten<br />
und studieren ließ, die keine Studienerlaubnis mehr hatten. Sie wurden als Gäste<br />
des Geheimrats in den Büchern geführt.<br />
Im Institut herrschte eine geradezu unglaubl<strong>ich</strong> offene und nazifeindl<strong>ich</strong>e<br />
Atmosphäre. Politische Witze wurden weitererzählt, verbotene Schriften abgetippt<br />
und weitergegeben. Diejenigen Studenten, die s<strong>ich</strong> als überzeugte Nazis zu<br />
erkennen gaben, wurden gemieden.<br />
Als 1943 sieben zumeist halbjüdische Studentinnen und Studenten verhaftet<br />
wurden, wuchs die Solidarität zwischen allen Gle<strong>ich</strong>gesinnten. Zu einigen<br />
der Assistenten und zu Geheimrat Wieland entwickelte s<strong>ich</strong> ein ungewöhnl<strong>ich</strong>es<br />
Vertrauensverhältnis. Als den Verhafteten später der Prozess wegen Hochverrats<br />
gemacht wurde, sagte Wieland als Entlastungszeuge für seine Studenten aus -<br />
ohne jedoch damit das schon feststehende Todesurteil gegen den Studenten<br />
Hans-Konrad Leipelt verhindern zu können.<br />
Ich bin s<strong>ich</strong>er, dass diese, hier nur unvollständig angedeuteten Erfahrungen<br />
für die Entwicklung meines politischen und moralischen Selbstverständnisses<br />
außerordentl<strong>ich</strong> w<strong>ich</strong>tig waren und auch meine Studienmotivation positiv beeinflussten.<br />
In meiner Erinnerung finde <strong>ich</strong> anstelle von Anze<strong>ich</strong>en für eine Faszination<br />
an der Wissenschaft eher Hinweise für den Wunsch, mögl<strong>ich</strong>st lange in<br />
diesem Institut bleiben zu können und infolgedessen für das Bestreben, den an<br />
m<strong>ich</strong> gestellten fachl<strong>ich</strong>en Anforderungen mögl<strong>ich</strong>st gut zu entsprechen.<br />
Im Rückblick auf die ersten Studiensemester, vor allem die vor dem Vordiplom,<br />
denke <strong>ich</strong> an Pfl<strong>ich</strong>teifer, Fleiß und Mühe bei der Laborarbeit und bei<br />
den Vorbereitungen auf die vielen Prüfungskolloquien. Danach, als es um die<br />
organische <strong>Chemie</strong> ging, wurde mir alles le<strong>ich</strong>ter und plausibler (in späteren<br />
Jahren war mir übrigens die organische <strong>Chemie</strong> lieber als die anorganische oder