Gerda Freise Warum studierte ich Chemie? - Gute UnterrichtsPraxis
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die Prigogine und mein Diplomvater hatten, diametral entgegengesetzt waren:<br />
Letzterer war ein penibler, mathematisch orientierter Theoretischer Physiker, der<br />
nie etwas hinzuschreiben wagte, das n<strong>ich</strong>t absolut s<strong>ich</strong>er ist ... und Prigogine ein<br />
Luftikus im wissenschaftl<strong>ich</strong>en Sinne - das darf man wohl sagen, er hat ja immerhin<br />
den Nobelpreis dann erhalten, - der mit der Mathematik umging, wie<br />
andere mit einem Stück Knete. Ich war sehr perplex, festzustellen, dass zwei<br />
s<strong>ich</strong> auf den selben Gegenstandsbere<strong>ich</strong> bezogen, näml<strong>ich</strong> die Erklärung der Irreversiblen<br />
Thermodynamik makroskopischer Systeme, dieselben Fragen behandelten<br />
und n<strong>ich</strong>ts miteinander zu tun hatten, den gle<strong>ich</strong>en Formalismus verwandten,<br />
aber gegenseitig ihre Arbeiten n<strong>ich</strong>t zur Kenntnis nahmen. Und <strong>ich</strong> stand -<br />
bums - sozusagen in der Mitte. Ich begab m<strong>ich</strong> dann auf ein Gebiet, womit er<br />
einverstanden war, promovierte auch mit summa cum laude, aber wissenschaftl<strong>ich</strong><br />
gesehen war das keine gute Arbeit. Er hielt m<strong>ich</strong> wohl auch n<strong>ich</strong>t für einen<br />
Starschüler, und besorgte mir dann, nachdem <strong>ich</strong> schon fast zu einem Belgier<br />
geworden war, eine Assistentenstelle an einer deutschen Universität. Dort war<br />
man sehr stolz, einen Prigogine-Schüler mit guter Note zu bekommen ...<br />
Ich kam dann 1967 in die Bundesrepublik zurück, hatte aber bis dahin die<br />
Anfänge der Studentenbewegung einfach verschlafen. Ich hatte wohl mal was<br />
davon gehört, aber in Belgien tat s<strong>ich</strong> dergle<strong>ich</strong>en n<strong>ich</strong>ts. Es war so wie immer,<br />
selbst jemand wie Ernest Mandel, der in Brüssel lebte, war mir gar kein Begriff.<br />
Und dass die Naturwissenschaften etwas mit Ökonomie zu tun haben könnten,<br />
war außerhalb meines Horizonts, aber für jedermann dort ebenfalls.<br />
Das änderte s<strong>ich</strong> nun schlagartig, als ein Assistent im Nachbarinstitut rausgeschmissen<br />
wurde, weil er keine Noten auf den Übungsscheinen geben wollte.<br />
Ich ging zu der Protestversammlung hin, als Kollege, um mir das einmal anzuhören.<br />
Es war ein vollbesetztes Studentenhaus, dreihundert Leute vielle<strong>ich</strong>t, die<br />
tobten und überlegten, was man dagegen tun könne, dass der seinen Job n<strong>ich</strong>t<br />
verliert. Irgendwelche Rabaukenkerle wollten sogar einen Vorlesungsstreik beschließen.<br />
Auch <strong>ich</strong> fand, dass das mit dieser Suspendierung geklärt werden<br />
müsse, aber bitte über den Rechtsweg. Bis auf fünf überzeugte <strong>ich</strong> diese dreihundert<br />
Leute davon, keinen Vorlesungsstreik zu machen, weil das rechtswidrig<br />
sei. Nachts um zwölf kam ein Kollege von der Landesassistentenkonferenz in<br />
das Studentenheim. Als ihm ber<strong>ich</strong>tet wurde, fing er an zu heulen. Dem war das<br />
so unvorstellbar, aber <strong>ich</strong> hatte ein sehr gutes Gewissen.