Gerda Freise Warum studierte ich Chemie? - Gute UnterrichtsPraxis
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physikalische <strong>Chemie</strong>): Das Lernen war n<strong>ich</strong>t mehr nur auf Einzelheiten bezogen.<br />
Ich hatte angefangen, Zusammenhänge zu erkennen und auch Neugier zu<br />
entwickeln. Die regelmäßig im Institut stattfindenden wissenschaftl<strong>ich</strong>en Kolloquien,<br />
in denen über neue Forschungsergebnisse ber<strong>ich</strong>tet wurde und die s<strong>ich</strong><br />
anschließenden Diskussionen der Wissenschaftler, machten auf uns junge Studenten<br />
großen Eindruck. Aber in meinem Gedächtnis sind doch nur wenige<br />
konkrete inhaltl<strong>ich</strong>e Details geblieben. Sehr deutl<strong>ich</strong> erinnere <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> dagegen<br />
an einen Misserfolg, den <strong>ich</strong> kurz vor dem Diplom zu verkraften hatte: Jeder<br />
musste zum Abschluss der praktischen Ausbildung eine unbekannte organische<br />
Substanz quantitativ analysieren. Die abgegebenen Werte durften nur geringfügig<br />
von den r<strong>ich</strong>tigen Werten abwe<strong>ich</strong>en. Diese Analyse wollte und wollte mir<br />
n<strong>ich</strong>t gelingen. Eines Tages sagte mir der Geheimrat, <strong>ich</strong> dürfe diese Analyse<br />
(Meisterschuß genannt) nach dem Diplomexamen nachholen. Lange Zeit hatte<br />
<strong>ich</strong> sie vor mir hergeschoben und - da m<strong>ich</strong> niemand daran erinnerte - angefangen<br />
zu glauben, alle hätten die Angelegenheit vergessen. Aber nach meiner<br />
Doktor-Prüfung machte m<strong>ich</strong> Wieland lächelnd darauf aufmerksam, dass <strong>ich</strong><br />
nun die einzige promovierte Chemikerin sei, die das Institut ohne den Meisterschuss<br />
verlasse.<br />
Nach dem Diplomstudium hatte <strong>ich</strong> übrigens bereitwillig und ohne eigene<br />
inhaltl<strong>ich</strong>e Vorstellungen entwickelt zu haben, die mir angebotenen Themen für<br />
die Diplom- und Doktor-Arbeit akzeptiert und die s<strong>ich</strong> daraus ergebenden experimentellen<br />
Aufgaben in Angriff genommen, ohne nach dem größeren Zusammenhang<br />
zu fragen, in dem diese standen. Die Themenvergabe und dann die Betreuung<br />
durch einen engen Mitarbeiter Wielands ließen allerdings keinen Zweifel<br />
an der Zuordnung meiner Arbeit zu dem großen Gebiet der organischen<br />
<strong>Chemie</strong> aufkommen, das von Wieland, seinen Assistenten und Kollegen bearbeitet<br />
wurde (Wieland war einer der großen Klassiker der Naturstoffchemie).<br />
Ich will diesen Rückblick auf die Zeit des <strong>Chemie</strong>studiums in München mit<br />
dem Hinweis auf einige Beobachtungen, deren Bedeutung mir damals noch<br />
n<strong>ich</strong>t bewusst war: Während des Studiums hatte <strong>ich</strong> immer wieder festgestellt,<br />
dass für einige Kommilitonen das Studium der <strong>Chemie</strong> und überhaupt die Beschäftigung<br />
mit der <strong>Chemie</strong> das w<strong>ich</strong>tigste in ihrem Leben war. Ich hatte auch<br />
bemerkt, dass der familiäre Hintergrund vieler Studenten s<strong>ich</strong> von dem meinen<br />
unterschied: die meisten stammten aus Akademikerfamilien; die Väter waren