Historischen Teil - Carl Stumpf Gesellschaft
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Margret Kaiser-el-Safti 29<br />
Zu den Bolzano-Lesern dürften aber sowohl Hermann Lotze als auch Franz<br />
Brentano und seine Schüler einschließlich <strong>Carl</strong> <strong>Stumpf</strong> zu zählen sein. <strong>Stumpf</strong>s<br />
Habilitation enthält deutliche Anzeichen dafür. Der bislang fast gänzlich übersehene<br />
Zusammenhang zwischen Bolzanos Lehre und der Gestaltpsychologie ist<br />
unter erkenntnistheoretischen Prämissen nachvollziehbar, insofern Bolzano sich<br />
als Logiker auch gegen psychologische Missverständnisse abgegrenzt hatte, und<br />
Brentano sich wiederholt veranlasst sah zu beteuern, dass er, obwohl mit<br />
Bolzano bekannt, nichts von ihm angenommen oder übernommen hätte (vgl.<br />
Brentano 1973, S. XLVI). Für Brentanos ablehnende Haltung sprechen zwei<br />
Gründe: Bolzanos (,platonisierende„) Wahrheitstheorie und Bolzanos Bekenntnis<br />
zu einer einfachen Seelensubstanz in seiner Schrift: „Athanasia oder die<br />
Unsterblichkeit der Seele“ (Bolzano 1976, S. 229 f.). Das hieß, dass Brentano in<br />
Bezug auf zwei philosophische Prämissen in der Tat eine gegenteilige Position<br />
zu Bolzano vertrat. Vor diesem Hintergrund mag es etwas übertrieben klingen,<br />
wenn Ursula Neemann in ihrer informativen Auseinandersetzung mit „Bernard<br />
Bolzanos Lehre von Anschauung und Begriff“ in ihrer Kritik an der Gestaltpsychologie<br />
darauf insisitiert, Bolzano sei als ihr eigentlicher Begründer<br />
auszuzeichnen. Bezüglich der logischen Grundlagen dürfte Neemann aber nicht<br />
im Unrecht sein (vgl. Neemann 1972, S. 137; zu ,Ganzes und <strong>Teil</strong>„ S. 215 f.).<br />
Bemerkenswerter Weise war es Wilhelm Wundt, der 1920, also Jahrzehnte vor<br />
Neemann, auf Bolzanos Lehre als den logischen oder „scholastischen“ Kern der<br />
Phänomenologie <strong>Stumpf</strong>s hinwies, allerdings in diskriminierender Weise den<br />
Überhang logischer Begründung kritisierend (vgl. Wundt 1920, S. 188).<br />
1. 4. 3. Bolzanos, im Anschluss an Herbarts Reflexionen zum Phänomen des<br />
„Zusammengesetztseins“, das Herbart als ein Grundproblem jeglicher<br />
Philosophie auszeichnete, und die in diesem Kontext verwendete Bezeichnung<br />
„Inbegriff“ (die auch Herbart schon verwendet) sowie Bolzanos Urteilstheorie<br />
dürften trotz anderslautender Beteuerungen Brentanos aber dennoch<br />
einflussreich gewesen sein für die Deskriptive Psychologie Brentanos, die<br />
Phänomenologie <strong>Stumpf</strong>s und Husserls „Lehre von den Ganzen und den <strong>Teil</strong>en“<br />
in dessen „Logischen Untersuchungen“ (1928: 225 ff). Inbegriffe sind<br />
begriffliche Gegenstände, die aus anderen begrifflichen Gegenständen<br />
zusammengesetzt sind; der Begriff der Zusammengesetztheit „ist der<br />
grundlegende Begriff der Bolzanoschen Lehre von den Inbegiffen, da ein<br />
Inbegriff als ein ,Etwas, das Zusammengesetzheit hat„, definiert wird“ (vgl. dazu<br />
Krickel 1995, S. 79 ff.). Summa summarum wäre Bolzano in der Tat unter<br />
logischen Gesichtspunkten als ein bedeutender ,Vorläufer„ der logischkognitiven<br />
Seite der Ganzheits- und Gestalttheorie zu würdigen, wenngleich<br />
andere Prämissen des großen Logikers freilich gegen seine psychologische<br />
,Vereinnahmung„ sprechen.