Historischen Teil - Carl Stumpf Gesellschaft
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Margret Kaiser-el-Safti 51<br />
Gestalterkennung und -verwendung möglich, mithin dasjenige, was nach <strong>Stumpf</strong><br />
den Beginn und das Wesen der menschlichen Musik ausmacht, das Erkennen<br />
der Bedeutung oder das Bewusstsein der musikalischen Gestalten respektive die<br />
Transponierung von Verhältnissen (Intervallen), die Tieren nicht unterstellt<br />
werden kann, in Analogie zur begrifflich-sprachlichen Entwicklung (der<br />
Abstraktion) prinzipiell die menschliche Psyche sich von der tierischen unterscheidet:<br />
„Singvögel scheinen nicht imstande zu sein“, bemerkt <strong>Stumpf</strong> und<br />
verweist auf experimentelle Ergebnisse, „ihren Gesang auf andere Tonhöhen zu<br />
transponieren, auch wenn sie dadurch die Grenzen ihrer Stimme nicht<br />
überschreiten“ (S. 240). Man kann also davon ausgehen, dass noch vor der<br />
kindlichen Begriffsentwicklung die Bedingung der Möglichkeit zum Spracherwerb<br />
durch die grundlegende Befähigung zur Wahrnehmung (Erkennung) und<br />
Transponierung von Verhältnissen gegeben ist.<br />
8. Logizismus<br />
<strong>Stumpf</strong> verwahrt sich in diesem Abschnitt gegen den Vorwurf des Logizismus,<br />
den namentlich Wilhelm Wundt wiederholt gegen die Psychologie Brentanos<br />
und <strong>Stumpf</strong>s vorbrachte, der aber vermutlich auch zu den grundsätzlichen<br />
Abweichungen der neueren Gestaltpsychologie motivierte. Bewusstseinsvorgänge<br />
und Bewusstseinsinhalte würden zu stark aus psychologiefremden<br />
Perspektiven, beispielsweise aus der Sicht von Mathematikern, Physikern oder<br />
Musikern, interpretiert. Der Vorwurf artikuliert sich, auf den Punkt gebracht,<br />
laut <strong>Stumpf</strong> folgendermaßen: „Die Gestaltpsychologie hat nicht die Aufgabe,<br />
Gestalten mathematisch oder physikalisch zu definieren, sondern genau nur das<br />
zu beschreiben, was jedem, der eine Gestalt betrachtet und als solche erkennt,<br />
als Bewusstseinsinhalt gegeben ist“ (S. 241). <strong>Stumpf</strong> wählt ein simples Beispiel,<br />
das †, dessen Anordnung, Länge und Verhältnis der Linien zueinander, noch<br />
abgesehen von seinem christlichen Symbolgehalt, von jedem bemerkt und<br />
aufgrund spezifischer Verhältnisse von anderen Gestalten unterschieden würde.<br />
<strong>Stumpf</strong> fühlt sich von dem Logizismusvorwurf nicht betroffen, indem er geltend<br />
macht, dass man in das Bewusstsein zu viel, aber eben auch zu wenig hineinlegen<br />
könnte. Wer alles, was irgendwie an Verhältnisse erinnert, vermeiden<br />
wollte,<br />
müsste sich auf Stillschweigen verlegen, dann wäre er vor allen Gefahren sicher.<br />
Was einer meint, wenn er einem Gesichtsbild eine bestimmte Gestalt zuschreibt, das<br />
ist nach seiner eigenen Intention nichts anderes und kann nichts anderes sein, als ein<br />
Inbegriff von Verhältnissen, wenn anders die Bedingung der Übertragbarkeit<br />
gewährt bleiben soll. Es ist eben tatsächlich etwas Logisches, besser gesagt etwas<br />
Denkpsychologisches in unseren Gestaltaussagen enthalten, eben jenes abstrakte<br />
Netz von Beziehungen, welches allein der Übertragung fähig ist. Und gerade dieses,<br />
nicht aber der konkrete gestaltete Eindruck, ist das Wesen der Gestalt (242).