Historischen Teil - Carl Stumpf Gesellschaft
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Margret Kaiser-el-Safti 46<br />
verändern kann, so kann auch keines der Verhältnisse im geringsten geändert<br />
werden, sie bedingen sich gegenseitig (S. 231).<br />
Ähnlich verhält es sich bei der Wahrnehmung der Melodie:<br />
Es ist nicht so, daß wir das Verhältnis des zweiten Tones zum ersten Ton, dann<br />
nur das des dritten zum zweiten, hierauf nur das des vierten zum dritten usw.<br />
wahrnehmen und zuletzt alle addieren, sondern wir erfassen, während wir den<br />
dritten Ton hören, außer seinem Verhältnis zum vorhergehenden auch das zum<br />
ersten noch mit, und so fort, bis zum letzten, wenn anders die Melodie nicht zu<br />
lang ist, um noch in einem einheitlichen Bewußtseinsakt überschaut zu werden.<br />
<strong>Stumpf</strong> hatte 1907 lediglich in einer Fußnote Ehrensfels„ Erklärung der Melodiewahrnehmung<br />
als zu simplistisch und also verfehlt kritisiert (vgl. <strong>Stumpf</strong><br />
1907 a, S. 28). Ebenso wie beim Dreiklang verhielte es sich bei Raumgestalten,<br />
einem Gemälde, einer Landschaft, „wenn und soweit sie als Ganzes erfaßt<br />
werden“. <strong>Stumpf</strong> plädiert dafür, dass man entgegen Theorien, die von der<br />
Hypothese einer punktuellen ausdehnungslosen Seele ihren Ausgang nehmen<br />
und eine Mehrheit gleichzeitiger psychischer Akte als Widerspruch deklarierten<br />
(wie beispielsweise J. F. Herbart), in der Tat nicht nur eine Mehrheit von Elementen,<br />
sondern auch eine Mehrzahl von Verhältnissen auf einmal wahrgenommen<br />
oder auch nur vorgestellt werden kann: „Es ist uns nun einmal<br />
tatsächlich möglich, Vielheiten in einem Bewußtseinsakt zusammenzufassen.<br />
Dies ist eine Fundamentaltatsache, man könnte sagen die Fundamentaltatsache<br />
des Bewußtseins.“ <strong>Stumpf</strong> verweist auf Gleichgesinnte in dieser Angelegenheit,<br />
nämlich Leibniz und Lotze, und betont: „Aber in dieser Einheit des Aktes bei<br />
Vielheit der Elemente liegt keineswegs ein Widerspruch“ (vgl. 2011, S. 107).<br />
Diese Fundamentaltatsache des Bewusstseins, die erlaubt, <strong>Teil</strong>e – beispielsweise<br />
Töne in einem Akkord, aber eben auch psychische Akte – zu unterscheiden und<br />
gesondert zu behandeln, das heißt als einzelne zu identifizieren, obwohl sie sich,<br />
weil nicht räumlich ausgedehnt, durchdringen und sich also nicht real wie<br />
Stücke abtrennen, isolieren lassen, kontrastiert erkenntnistheoretisch gegen<br />
jegliche Ding-Ontologie, die „Mereologie“ offenbar ausschließlich im Sinne<br />
von real trennbaren Stücken von einem Ganzen begreift (vgl. zu letzterer<br />
Auffassung beispielsweise Falkenburg 2012, dazu meinen Beitrag „Zwei<br />
Grundprobleme psychologischer Modellbildung“ in diesem Band). Für die<br />
Deskriptive Psychologie war diese Unterscheidung und Isolierung, wenngleich<br />
nicht reale Trennung von psychischen Funktionen, von größter Bedeutung, über<br />
die ausführlich an anderer Stelle zu handeln sein wird.<br />
Der Logiker und Phänomenologe Paul Ferdinand Linke hat – nicht zuletzt<br />
gegen den seiner Auffassung nach extremen Antipsychologismus Gottlob Freges<br />
– diese Fundamentaltatsache des Bewusstseins am Prozess der Wort- respektive<br />
Lautwahrnehmung nach dem gleichen von <strong>Stumpf</strong> geschilderten Procedere der