Thermikfliegen Sonderheft Thermikfliegen Sonderheft (Vorschau)
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ihn nach unten. So, der »Amigo« ist auf knapp<br />
100 Metern, flutscht aus dem Seil und gleitet<br />
langsam und gemütlich mit wenig mehr als<br />
Schritttempo durch die ruhige Luft. Achtung: Mit<br />
dem Seitenblick eines erfahrenen Profis registrieren<br />
Sie unauffällig, und bitte ohne Ihr Modell<br />
lange aus den Augen zu lassen, wo Ihr Seilende<br />
mit dem kleinen Fallschirm 15 Sekunden später<br />
landet. Das erspart so manche nervenaufreibende<br />
Suchaktion im hohen Gras. Okay, Sie könnten<br />
natürlich einen Assistenten dabei haben, der auf<br />
diese sekundären Dinge achtet, zum Beispiel die<br />
beste Ehefrau von allen.<br />
Aber, ganz ehrlich, wir wollen fliegen – und<br />
nicht etwa das Essen für die anstehende Familienfeier<br />
zu Ihrem 50. Geburtstag diskutieren. Seien<br />
Sie großzügig und lassen Sie Ihrer Liebsten<br />
freie Hand. Ihren einzigen Wunsch zum Fünfzigsten<br />
kann Sie Ihnen sowieso nicht erfüllen: Nur<br />
einen Tag bitte nicht fragen: „Schaaaaatz, warum<br />
willst du heute schon wieder auf den Flugplatz?!“<br />
Gut, man wird ja noch träumen dürfen ...<br />
So, der »Amigo« gleitet immer noch weiter<br />
vor sich hin, einfach geradeaus. Sollte der<br />
seltene Zufall eintreten, dass in diesen Minuten<br />
absolut nichts geht, flattern (kurven) Sie bitte<br />
nicht wild und wahllos durch die Gegend. Das<br />
bringt überhaupt nichts, das kostet Sie nur Höhe.<br />
Fliegen Sie in dem Fall bitte ein riesiges „U“, mit<br />
der Öffnung zu Ihnen. Denken Sie immer daran:<br />
Jede noch so kleine Kurskorrektur lässt den Segler<br />
schneller sinken als nötig. Lassen Sie ihm freien<br />
Lauf, bei „toter Luft“ nicht zu schnell fliegen,<br />
sondern auf langsamste Marschgeschwindigkeit<br />
trimmen.<br />
Da sind Sie natürlich mächtig stolz drauf,<br />
dieses perfekte Trimmen hat etliche Flüge gebraucht!<br />
Aber heute geht was, das haben wir<br />
im Gefühl – und siehe da: Plötzlich nimmt der<br />
Thermik 2012<br />
Wolkenlos, na und! Dieser Tiefenblick ins 20 Kilometer entfernte Essen zeigt einen<br />
sonnigen Tag ohne Inversionslage, das verspricht Thermik ohne Deckel. Es ist<br />
noch früh, die Cumuli werden sich in den nächsten Stunden bilden. Sie fliegen<br />
trotzdem, behalten Sie nur die typischen Ablösepunkte wie Bäume, Sträucher,<br />
Geländekanten, hellere Bodenbereiche und die Schwalben im Auge<br />
»Amigo« die Nase deutlich nach unten, oder das Leitwerk hebt sich an – alles<br />
eine Frage der Perspektive. „Oh Gott, ein Luftloch!“, denken Sie, hysterisch<br />
einen stummen Schrei unterdrückend – und Sie ziehen voll Höhe, um Ihren<br />
unübersehbar schneller werdenden Segler in der Horizontalen zu halten.<br />
Schade, denn das war erstens genau falsch und zweitens eindeutig<br />
zu früh reagiert, denn Sie waren nur wenige Flugsekunden vor einem<br />
respektablen Bart, aus dem Sie jetzt höchstwahrscheinlich zur Seite herausgefallen<br />
sind! Was Ihrem »Amigo« die Nase so gemein nach unten reißt,<br />
das ist der Abwindring, der den Bart komplett umgibt (anders gesehen, das<br />
Leitwerk ist noch in der guten Luft, also oben). Da gibt es kein Vorbei, da<br />
müssen Sie durch. Kennern zeigt das übrigens geradezu überdeutlich in<br />
Signalfarben den Bart an.<br />
Bleiben Sie „cool“ – auf gar keinen Fall in dem Moment ziehen, Ihr<br />
Segler wird viel zu langsam, die Strömung reißt ab, er fängt an zu pumpen<br />
(glauben Sie mir, das passiert immer dann besonders auffällig, wenn<br />
gerade die notorischsten Nörgler und Spötter aus dem heimischen Verein<br />
neben einem stehen!), und das Modell fällt, bevor es wirklich in dem Bart<br />
ist, quasi an der Eingangstür wieder hinaus.<br />
Also, lassen Sie den »Amigo« ruhig die Nase runternehmen, etwas Tempo<br />
zulegen, behalten Sie die Nerven, fliegen Sie ein paar Meter ins Zentrum<br />
des Steigens und kreisen Sie ein. Der »Amigo« klettert, zwei Minuten, fünf<br />
Minuten, der Bart wandert leicht mit dem Wind über die Wiese und nimmt<br />
den Segler mit – besser geht es nicht! Wenn das nur auf ewig so wäre.<br />
Aber nein, nach einigen göttlichen, herrlichen, unbeschreiblichen, sagenhaften,<br />
glücklichen, traumhaften, unwiederbringlichen Minuten holt uns<br />
die harte, ungeschminkte Realität wieder ein, dramatischer als RTL! Wie,<br />
Ihnen wird klar, dass Sie seit 20 Jahren mit der falschen Frau verheiratet<br />
sind? Nein, schlimmer, viel schlimmer! Plötzlich merken Sie, dass der Bart<br />
nicht mehr zieht! Die Luft ist raus aus der Thermik, der »Amigo« steigt nicht<br />
mehr. Erst kommt es zu einem Nullschieber. (Hier eine Anmerkung zum oft<br />
gebrauchten Terminus „Nullschieber“: Eigentlich tun wir dem Nullschieber<br />
mit dieser leicht negativen Bezeichnung arges Unrecht an. Denn: Ein Nullschieber<br />
ist, mit offenen Augen und klarem Verstand beobachtet, bereits<br />
ein deutliches Steigen. Wie das? Ganz einfach erklärt: Ihr Modell sinkt von<br />
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