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BEITRÄGE 96 tiertes Lernen ergänzt werden: Es muss bei Anerkennung der Notwendigkeit zeitsparender Lehrverfahren Raum und Zeit geben, damit Schüler so lernen, wie wir lernen, wenn wir Erfahrungen machen. – Curricular muss das Lehrgangslernen durch die Frage nach dem Sinn des Lernens neu dimensioniert werden: Nur das darf in den Lehrplan, was für den Schüler Sinn macht – und nicht etwa nur das, was sich besonders gut abprüfen und quantifizieren lässt. – Institutionell darf die Schule nicht auf eine Ausbildungsanstalt reduziert werden, wie es einige Kollegen vorschlagen. Die Schule ist ein Ort ganzheitlicher Bildung: Sie muss durch Fächerkanon, Stundentafel, Lehrplan und Schulleben so ausgestattet sein, dass die Frage nach dem Sinn schulischen Lernens Gegenstand schulischen Lernens ist. 5. Was heißt „Lernen“ – aus pragmatischer Perspektive? Bisher haben vielleicht zwei Formulierungen gestört: Die moralische Entscheidung – sagte ich – sei weder überprüfbar noch zu erzwingen. Und: Lernen sei Selbsttätigkeit; allein der Lerner sei verantwortlich für das, was er gelernt hat – nicht der Lehrer. Es hat vielleicht gestört, dass ich das Lernen als Denken, ja als Erkennen einer Sache verstanden habe. Gibt es denn keinen Unterschied zwischen wissenschaftlichem Erkennen und schulischem Lernen? Hat man eine Vokabel, die man erkannt hat, auch schon gelernt? Nun kann man sagen, dass man eine Vokabel nur gelernt hat, wenn man sie versteht, also erkannt hat. Und wenn man etwas verstanden hat, braucht man es nicht noch einmal in einem gesonderten Akt zu lernen. Wenn man jemandem den Weg zum Bahnhof erklärt, dann setzt sich die Person doch nicht hin, und lernt ihn auswendig! Zudem: Was wir uns jedes Mal neu durch Denken erschließen können, lernen wir auch nicht – und brauchen wir auch nicht zu lernen: Wir haben doch nicht auswendig gelernt, was 4572 plus 9781 sind, sondern wir denken uns den Inhalt jedes Mal neu. Allerdings ist zu fragen: Muss man die binomischen Formeln nicht einfach auswendig lernen – schon allein deshalb, weil es zu lange dauerte, würde man sie jedes Mal wieder herleiten? Muss man Vokabeln nicht einfach auswendig lernen? Es gibt also Wissensund Handlungsgebiete, die lernt man nicht vernunftkausal, also durch Verstandesschlüsse, sondern durch Memorieren und Übung. Ein Kunstspringer lernt seine Drehungen und eine Eiskunstläuferin ihre Pirouetten nicht durch Einsicht. Beide müssen das, was sie wollen, tun, und zwar immer wieder. Ein Schauspieler kann sich seine Monologe nicht ausdenken oder gedanklich rekonstruieren – sondern er muss die Worte so setzen, wie sie vorgeschrieben wurden. Ein Musiker fügt beides zusammen: Er muss die Noten so spielen, wie Beethoven das gewollt hat, und muss sich womöglich ohne Partitur daran erinnern, und er muss die Triller in der rechten Hand immer wieder üben, damit sie leicht von der Hand gehen. Es gibt also ein Lernen, das die Möglichkeiten unseres Verstandes zugleich unterbietet wie überbietet. Dieses Lernen unterbietet die Möglichkeiten des Verstandes, weil wir auch dann etwas lernen können, wenn wir es nicht verstanden haben: die Nummer der Bankkarte, das Autokennzeichen usw. Die Daten haben keinen Sinn – nur das Behalten macht Sinn. Dieses Lernen überbietet aber auch unseren Verstand, weil Klavierspieler und Kunstspringer, weil Zauberkünstler oder Zahnärzte etwas können – was sich einstellt, ohne dass man es willentlich herbeiführt. Wer ein Instrument spielt oder eine technisch komplizierte Sportart wie Skateboardfahren ausübt, weiß wovon ich spreche: Immer hakt man an einer bestimmten Stelle in einer Sonate. Man spielt dann die Stelle ganz langsam, wird schneller – und eines Tages kann man es, ohne dass man es vernunftkausal steuert. Skateboardfahrer lernen nicht durch Vernunftschlüsse, sondern dadurch, dass sie bestimmte Bewegungen immer wieder zu machen versuchen: Bis sie die Stufen vor dem Rathaus ohne Probleme runterrutschen und über die Halfpipe hinausfliegen und wieder sicher landen. Zwei Einsichten kann man gewinnen: 1. Üben kann Spaß machen! 2. Gewisse Operationen beherrscht man nur, wenn man sie übt. Dazu gehören Sprachmuster. Dazu gehören Vokabeln. Dazu gehören mathematische oder physikalische Formeln und ihre Anwendung. Dazu gehört das Lösen von Rechenaufgaben. Dazu gehört das Lesen, das Schreiben. Dazu gehört die Aussprache im Englischen. Dazu gehören Handlungsabläufe im Sportunterricht. All dies muss man üben – schlicht üben 7 , d.h. immer wieder machen – solange, bis es sich selbst macht. Hier besteht das Lernen im Üben – und da sich weltberühmte Pianisten nicht zu schade sind, tagtäglich mehrere Stunden zu üben, sollten wir es unseren Kindern nicht ersparen wollen. In all diesen Fällen geschieht das Lernen durch Üben. Man kann Vokabeln, grammatische Regeln, man kann Lesen und Schreiben nicht anders lernen als durch Üben. Das mag die Intelligenz unterfordern; aber das Ergebnis übersteigt alles, was wir uns denken können: Oder sind wir nicht fasziniert von den Kunststücken der Akrobaten im Zirkus, von Gitarren- oder Violinvirtuosen? Wir sind überrascht, weil sie etwas können, was wir mit Verstandesarbeit nicht erreichen können. Da das Üben eine Form des systematischen Lernens ist, gehört es an den Ort des systematischen Lernens: in die Schule. Und hier nun muss man auf Versäumnisse hinweisen: Unsere Kinder üben in der Schule zu wenig. Viele Lehrer glauben, das Üben gehö- INFO 34 · 2/2005
e nicht in den Unterricht – und das ist falsch. Üben in diesem Sinne ist Unterricht, wichtiger Unterricht. Üben lassen will gelernt sein. Beim Üben muss man aufpassen, dass richtig geübt wird. Üben muss man begleiten, man muss ermuntern und dauernd kontrollieren. Eine gute Übungsstunde zu planen, ist genau so schwierig, wie eine problemorientierte Stunde zu planen. Und völlig falsch ist es, das Üben in die Hausaufgaben zu verlegen. Welcher Trugschluss! Das Wichtigste (das Lernen) soll nicht in der Schule stattfinden und von Personen begleitet werden, die davon nur laienhafte Ahnung haben? Üben ist Lernen – es gehört in die Institution, die zum Lernen geschaffen wurde – in die Schule. Alles, was ich über das Üben gesagt habe, kann ich auch über das Auswendiglernen sagen: Das Auswendiglernen sichert uns eine riesige Repertoirebreite an Handlungsmöglichkeiten. Wir können Routinen entwickeln, zeitsparend Entscheidungen treffen. Wir sind uns unserer selbst sicher. Wir sind selbst sicher. Wir gewinnen Sicherheit in Handlungssituationen. Man muss eben nicht nur wissen, wo etwas steht: Man muss es wirklich selbst wissen, wenn man schnell handeln will. Beim Auswendiglernen haben wir sekundenschnell parat, was wir andernfalls zeitraubend erdenken müssten. Und auch hier gilt: Das Auswendiglernen muss man üben; man kann es lehren – da gibt es nun wirklich allerhand Techniken. Unterricht: Lernen heißt, eine Sache methodisch so zu denken, dass sie Sinn macht. Erziehung: Lernen heißt, die Frage nach dem Handlungssinn authentisch im Horizont der jeweiligen Schüler zu stellen und gemeinsam mit den Schülern nach Antworten zu suchen. Pragmatische Aspekte: Üben überbietet unseren Verstand, weil man etwas beherrscht, was man nicht willentlich herbeiführen kann. Auswendiglernen sichert uns ein Repertoire an Handlungsmöglichkeiten, auf Grund derer wir zeitsparend Entscheidungen treffen. 6. Was heißt „Lernen“ – aus disziplinarischer Perspektive? Ich hatte gesagt, dass moralische Entscheidungen weder überprüfbar noch zu erzwingen wären. Diese Sätze waren auf die Sittlichkeit der Schüler bezogen. Aber nicht jede Handlung bedarf schon einer sittlichen Begründung! Unser Handeln unterliegt z.B. institutionellen Gegebenheiten – die zwar letztlich sittlich begründet werden müssen, aber nicht jederzeit in Frage gestellt und diskutiert werden können. 8 Die Schule ist eine solche Institution, die als Institution nur dann funktioniert, wenn sich alle an die für diese Schule notwendigen Regeln halten. Diese Regeln müssen eingehalten werden, auch wenn sie aktuell nicht begründet werden – und man sie nicht einsieht. Allerdings müssen auch diese Regeln gelernt werden. Wir haben hier einen vierten Lerntypus: Hier geht es nicht um vernunftkausales Verstehen, um für bedeutsam gehaltene Sinnoptionen, nicht um pragmatisches Auswendiglernen und Üben, sondern um Befolgen. Natürlich befolgt man Regeln besser, wenn man sie versteht – aber man darf sie nicht erst dann befolgen, wenn man versteht. Das Lernen von Disziplin hat also sicherlich auch kognitive – also vernunftkausale – Anteile: Wann genau beginnt die Schule? Wie genau lauten die Regeln für eine sinnvolle Diskussion, usw.? Aber Disziplin lernt sich anders. Disziplin lernt sich sehr gut, indem man etwas mitmacht, indem man sich an etwas gewöhnt. – Je mehr also eine Schule Üblichkeiten, Gewohnheiten, Rituale konsequent festlegt und einhält, desto einfacher und schneller lernen die Schüler sie. – Sobald eine Schule verhaltenszielunsicher ist, lernen die Schüler das gewünschte Verhaltensziel nicht. Demonstriert also eine Schule sicher die von ihr gewünschten Verhaltensziele, also klare Regeln, klare Sanktionen, klare Verhaltensweisen (ohne Ausnahmen), einheitliche Verhaltensweisen in allen Klassen, bei allen Lehrern, durch stützende Rituale ... Demonstriert also eine Schule sicher die von ihr gewünschten Verhaltensziele, dann haben die Schüler die besten Chancen, sie auch zu lernen. Unterricht: Lernen heißt, eine Sache methodisch so zu denken, dass sie Sinn macht. Erziehung: Lernen heißt, die Frage nach dem Handlungssinn authentisch im Horizont der jeweiligen Schüler zu stellen und gemeinsam mit den Schülern nach Antworten zu suchen. Pragmatische Aspekte: Üben überbietet unseren Verstand, weil man etwas beherrscht, was man nicht willentlich herbeiführen kann. Auswendiglernen sichert uns ein Repertoire an Handlungsmöglichkeiten, auf Grund derer wir zeitsparend Entscheidungen treffen. Disziplin: Lernen geschieht durch das Mittun in sinnvollen und festen Handlungsabläufen. Ich möchte Ihnen nun, als Abschluss, einen Kreislauf richtigen Ler- BEITRÄGE 97 INFO 34 · 2/2005
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