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es nicht allein eines Griffs in die spirituelle Tradition<br />
<strong>de</strong>r Christenheit (so wertvoll dieser auch ist).<br />
Gera<strong>de</strong> die wissenschaftliche Vernunft hat längst<br />
die geistes- und forschungsgeschichtlichen Apriori<br />
entlarvt, die Bultmanns Schriftauslegung steuerten.<br />
In diesem Sinne lässt sich das Jesusbuch<br />
von Klaus Berger auch <strong>als</strong> vehementes Plädoyer<br />
für eine Selbstkritik wissenschaftlicher Schriftauslegung<br />
lesen. Solchermaßen gestärkt könnte<br />
dann neu und tiefer darüber nachgedacht wer<strong>de</strong>n,<br />
was es heißt, dass Maria bei <strong>de</strong>m Besuch <strong>de</strong>s Engels<br />
Gabriel „ein mystisch-ekstatisches Wi<strong>de</strong>rfahrnis“<br />
gehabt hat: „Maria hat eine Vision <strong>de</strong>s<br />
Engels Gottes, <strong>de</strong>ren Macht so groß ist, dass sie<br />
daraufhin schwanger ist“ (55). In <strong>de</strong>r Tat gilt:<br />
Biblische Texte bezeugen und rechnen „mit <strong>de</strong>r<br />
Möglichkeit realer Einbrüche <strong>de</strong>s Göttlich-An<strong>de</strong>ren<br />
in die Normalität <strong>de</strong>r Welt“, eine Wirklichkeit,<br />
die <strong>de</strong>n Rahmen kantianischer Vernunft<br />
überschreitet (vgl. 56).<br />
Charakteristisch für das neue Jesusbuch von<br />
Klaus Berger ist <strong>de</strong>r konfessorische Stil, <strong>de</strong>r die<br />
eigene Biographie und Lebensgeschichte nicht<br />
ausblen<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn thematisiert (vgl. 17-26, und<br />
<strong>de</strong>n nach<strong>de</strong>nklich stimmen<strong>de</strong>n, persönlichen Brief<br />
an Petrus, 589-596, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Wort en<strong>de</strong>t: „Auf<br />
Tränen kann man Kirche grün<strong>de</strong>n“). Berger hat<br />
eine neue Art von Katechismus geschrieben, <strong>de</strong>r<br />
je<strong>de</strong> Billigkeit und zeitgeistkonforme Ermäßigung<br />
zurückweist und statt<strong>de</strong>ssen eine mystagogische<br />
Hinführung zum Evangelium Jesu Christi bietet<br />
(contemplata aliis tra<strong>de</strong>re; vgl. 31), die typisch mo<strong>de</strong>rne<br />
Vorbehalte und verstellen<strong>de</strong> Vorurteile zu<br />
überwin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Lage ist. Klaus Scholtissek<br />
Hentig, Hartmut von<br />
Die Schule<br />
neu <strong>de</strong>nken<br />
Eine Übung in pädagogischer Vernunft (Beltz Tb.;<br />
119). – Weinheim u.a.: Verlag J. Beltz. 2003, 279 S.<br />
€ 12.90 (ISBN 3-407-22119-3)<br />
Hartmut von Hentig will eine an<strong>de</strong>re Schule.<br />
Schule, so das Grundanliegen vieler seiner Essays,<br />
Re<strong>de</strong>n und Einzelschriften aus <strong>de</strong>n letzten<br />
dreißig Jahren, muss eher polis sein <strong>als</strong> Lehrbetrieb;<br />
mehr Lebens- und Erfahrungsraum für<br />
das zivilisierte Miteinan<strong>de</strong>r, weniger Unterrichtsanstalt<br />
für instrumentelle Kenntnisse und Kompetenzen;<br />
Schule muss sich ebenso um die Lebens-<br />
wie um die Lernprobleme von Schülerinnen<br />
und Schülern kümmern.<br />
Anfang <strong>de</strong>r 90-er Jahre brannten in Deutschland<br />
Asylantenheime und Auslän<strong>de</strong>rwohnungen.<br />
Städte wie Hoyerswerda, Mölln, Rostock und Solingen<br />
gerieten in die Schlagzeilen. Hartmut von<br />
Hentigs 1993 veröffentlichtes Buch „Die Schule<br />
neu <strong>de</strong>nken“ passte genau in die Zeit. Hentig benannte<br />
Tatbestän<strong>de</strong> und Zeitsignaturen: „Neofaschismus<br />
und Gewalt gegen Auslän<strong>de</strong>r; Überfor<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Bürger durch die Politik und Abkehr<br />
von ihr; Ost-Enttäuschungen und West-Versäumnisse;<br />
die Folgen von Megalopolis, Migration<br />
und Globalisierung für das Zusammenleben <strong>de</strong>r<br />
Menschen; die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Grundverhältnisses<br />
von Wissen, Denken und Han<strong>de</strong>ln durch<br />
die elektronische Datenverarbeitung, Telekommunikation<br />
und Virtualität“ (V1f.). Angesichts<br />
solcher Entwicklungen sei es Hauptaufgabe <strong>de</strong>r<br />
Schule, <strong>de</strong>n jungen Menschen zu stärken, seinen<br />
Gemeinsinn, seine Vernunft und seine Verantwortung<br />
zu för<strong>de</strong>rn. Vor dieser Aufgabe versage<br />
die herkömmliche Unterrichtsschule. Polemisch<br />
nannte er sie „Bewahranstalt“, „Treibhaus“ o<strong>de</strong>r<br />
„Sortieranstalt“ und warf ihr ein eklatantes „Mißverhältnis<br />
von Aufwand und Erfolg“ vor: „Sie<br />
entläßt die jungen Menschen kenntnisreich, aber<br />
erfahrungsarm, erwartungsvoll, aber orientierungslos,<br />
ungebun<strong>de</strong>n, aber auch unselbständig – und<br />
einen erschreckend hohen Anteil unter ihnen ohne<br />
je<strong>de</strong> Beziehung zum Gemeinwesen, entfrem<strong>de</strong>t<br />
und feindlich bis zur Barbarei“ (S. 10). Man<br />
mag diesen Befund für überzogen und einseitig<br />
halten, völlig aus <strong>de</strong>r Luft gegriffen ist er sicher<br />
nicht. Hartmut von Hentig zog daraus seine<br />
Rechtfertigung für eine grundlegen<strong>de</strong> Neuausrichtung<br />
<strong>de</strong>r Schule. Er for<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n Abschied<br />
von <strong>de</strong>r reinen Unterrichtsschule und entwarf das<br />
reformpädagogische I<strong>de</strong>al einer Schule <strong>als</strong> Lebens-<br />
und Erfahrungsraum mit offenen Unterrichtsformen,<br />
einem Höchstmaß an Toleranz und<br />
Partizipation, jahrgangsübergreifen<strong>de</strong>n Lerngruppen,<br />
offenen Klassenräumen sowie ganzheitlichen<br />
und altersspezifischen Lernformen (S. 214-259).<br />
Zehn Jahre später bringt <strong>de</strong>r Beltz Verlag das<br />
Buch <strong>als</strong> Taschenbuchausgabe noch einmal heraus.<br />
PISA ist nun das große Thema, ein Paradigmenwechsel<br />
in <strong>de</strong>r Bildungslandschaft zeichnet<br />
sich ab. Die Erziehungswissenschaften sprechen<br />
von empirischer Wen<strong>de</strong>, die Schulverwaltungen<br />
von output-Steuerung, die KMK legt Bildungsstandards<br />
fest. Vergleichsarbeiten laufen an. Von<br />
Schule <strong>als</strong> polis und <strong>als</strong> Lernort <strong>de</strong>s Gemeinwesens<br />
re<strong>de</strong>t kaum jemand. Eine große Qualitätsund<br />
Evaluationsflut schwappt statt<strong>de</strong>ssen über das<br />
Land, sie könnte manche reformpädagogische<br />
Sandburg wegspülen. Geht <strong>de</strong>r 68-er-Vision von<br />
<strong>de</strong>r entschulten Schule nach PISA das Licht aus?<br />
Haben sich die gesellschaftlichen Probleme, die<br />
Hentig benannte, erledigt und sind die Fragen von<br />
vor zehn Jahren heute irrelevant?<br />
In einem neu verfassten, 47 Seiten langen Vorwort<br />
begrün<strong>de</strong>t Hartmut von Hentig, warum seine<br />
For<strong>de</strong>rung „Die Schule neu <strong>de</strong>nken“ heute aktueller<br />
sei <strong>de</strong>nn je. Die Mordtat eines Erfurter Gymnasiasten,<br />
die zunehmen<strong>de</strong>n Symptome gesellschaftlicher<br />
Desintegration und vor allem <strong>de</strong>r „zunächst<br />
nur behauptete, nun wirkliche (...) clash of<br />
cultures“ nach <strong>de</strong>m 11. September 2001 (V3) –<br />
dies alles seien Merkmale einer weit reichen<strong>de</strong>n<br />
gesellschaftlichen und kulturellen Verunsicherung.<br />
Angesichts <strong>de</strong>ssen stehe die Schule vor <strong>de</strong>r<br />
Wahl: För<strong>de</strong>rt sie „Leistungsdarwinismus“, um<br />
Schüler für einen „buchstäblich entfesselten<br />
Kampf ums Dasein“ zu befähigen? Leicht wer<strong>de</strong><br />
sie dann zum verlängerten Arm wirtschaftlicher<br />
Interessengemeinschaften. O<strong>de</strong>r betrachtet sie es<br />
<strong>als</strong> ihre Aufgabe, „<strong>de</strong>m jungen Menschen überzeugen<strong>de</strong><br />
und befriedigen<strong>de</strong> Erfahrungen mit <strong>de</strong>r<br />
`gemeinsamen Regelung gemeinsamer Angelegenheiten´<br />
zu geben“? Dann bleibe sie mit Recht<br />
eine Veranstaltung <strong>de</strong>s Gemeinwesens (V3f.).<br />
Wohin <strong>als</strong>o steuert die <strong>de</strong>utsche Schule nach<br />
PISA? Für Hartmut von Hentig ist dies noch keineswegs<br />
ausgemacht. Seine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit <strong>de</strong>r PISA-Studie fällt differenziert aus (V18-<br />
47). PISA folge „einer (wenn auch rudimentären)<br />
Bildungstheorie“. Dem Konzept <strong>de</strong>r drei „literacies“<br />
(Lesekompetenz, mathematische Grundbildung,<br />
naturwissenschaftliche Grundbildung) liege<br />
ein „formales“ bzw. „funktionales“ Bildungsverständnis<br />
zugrun<strong>de</strong>. Dass es „die Fachsystematik<br />
und die Wissenspyrami<strong>de</strong>n, die man in <strong>de</strong>utschen<br />
Lehrplänen aufgebaut hat, verlässt, <strong>als</strong>o einen<br />
didaktischen Paradigmenwechsel nahe legt“,<br />
begrüßt er. Kritisch geht er mit <strong>de</strong>n nun in<br />
Deutschland ergriffenen Maßnahmen um. Es stehe<br />
zu befürchten, dass man „die drei formalen<br />
Kompetenzen für die eigentliche und insofern<br />
ausreichen<strong>de</strong> `Basis´“ halte und darüber all jene<br />
Kompetenzen vernachlässige, die – neben <strong>de</strong>r<br />
„praktischen Bildung“ – für die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Aufgaben <strong>de</strong>r Schule, die „Bildung <strong>de</strong>r Person“<br />
und die „Bildung <strong>de</strong>s Bürgers“, wichtig seien<br />
(V28f.). Von <strong>de</strong>n Reaktionen auf PISA hält von<br />
Hentig die Ausweitung <strong>de</strong>r Ganztagsschulen für<br />
die wichtigste – vorausgesetzt, diese wür<strong>de</strong>n „<strong>als</strong><br />
geordneter Lebens- und Erfahrungsraum“ gestaltet,<br />
woran <strong>de</strong>r Autor durchaus Zweifel hat<br />
(V37). Durch das gute Abschnei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utscher<br />
Reformschulen wie <strong>de</strong>r Wiesba<strong>de</strong>ner Helene-<br />
Lange-Schule o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bielefel<strong>de</strong>r Laborschule<br />
(die von Hentig bis 1987 geleitet hat), sieht er<br />
sein Plädoyer für einen Abschied von <strong>de</strong>r herkömmlichen<br />
Unterrichtsschule bestätigt.<br />
Es gäbe vieles, auch Kritisches, zu von Hentigs<br />
Vision einer „Schule <strong>als</strong> Lebens- und Erfahrungsraum“<br />
zu fragen: Ist sie realistisch? Ist<br />
sie bezahlbar? Wer<strong>de</strong>n Lehrer, wer<strong>de</strong>n Eltern sie<br />
mittragen (können)? Und grundsätzlicher: Ist eine<br />
solche Schule überhaupt wünschenswert?<br />
Kommen nicht Inhalte und Wissen, kommt nicht<br />
das konzentrierte Lernen (und auch die Anstrengung)<br />
viel zu kurz in einer solchen Schule?<br />
Und ist nicht die Vorstellung, Schule könne<br />
ernsthaft zum „entschulten Lebens- und Erfahrungsraum“<br />
wer<strong>de</strong>n, eine f<strong>als</strong>che Utopie? Muss<br />
Schule nicht immer „Labor“ sein, ein Ort <strong>de</strong>s<br />
Nach<strong>de</strong>nkens, Lernens, Experimentierens und<br />
<strong>de</strong>r arrangierten (!) Erfahrung, aber eben doch<br />
nicht das Leben selbst? Bei aller Kritik, die an <strong>de</strong>r<br />
Radikalität <strong>de</strong>r Hentigschen I<strong>de</strong><strong>als</strong>chule zu üben<br />
wäre (und längst geübt wor<strong>de</strong>n ist) – <strong>als</strong> pädagogischer<br />
Gewissensspiegel für Lehrer, Schulleiter<br />
und Schulbehör<strong>de</strong>n ist die „Denkübung“,<br />
zu <strong>de</strong>r Hartmut von Hentig seine Leser anleitet,<br />
nicht nur tauglich, son<strong>de</strong>rn sogar notwendig.<br />
Denn min<strong>de</strong>stens hierin hat <strong>de</strong>r Autor recht: Erziehung<br />
ist allemal mehr <strong>als</strong> die Kunst, <strong>de</strong>n<br />
Unterricht störungsfrei zu halten. Erziehung be<strong>de</strong>utet<br />
Persönlichkeitsbildung und Ermutigung<br />
junger Menschen zu einem verantwortlichen, am<br />
Gemeinwohl orientierten Leben. Das sind Aufgaben,<br />
die ins Zentrum <strong>de</strong>r täglichen Arbeit gehören<br />
– und nicht nur in die Präambeln <strong>de</strong>r Schulprogramme.<br />
Sie sind nicht weniger zentral <strong>als</strong> die<br />
Vermittlung fachlicher und überfachlicher Kompetenzen.<br />
Und sie stellen sich, auch darin hat von<br />
Hentig recht, keineswegs im Vorübergehen ein,<br />
LITERATUR & MEDIEN<br />
105<br />
INFO 34 · 2/2005